Die Bildungsreise als ästhetische Erfahrung Europas? Im Kontext der Ringvorlesung Die Ästhetik Europas.
Auch ich möchte meine Ausführungen mit einer vielleicht auf den ersten Blick etwas eigenen
Perspektive beginnen, nämlich mit einer ähnlichen Problematisierung von Singular
Konstruktionen mit einem bestimmten Artikel. Also Singular mit einem bestimmten Artikel.
Die Ästhetik Europas oder die Bildungsreise sind grammatikalische Konstruktionen, die Wissenschaftler
in aller Regel dementsprechend fordern oder herausfordern, dieser Eindeutigkeit oder dieser
Bestimmbarkeit entgegenzutreten. Das heißt, der bestimmte Artikel fordert den Wissenschaftler
heraus gegen die Bestimmbarkeit, gegen die Eindeutigkeit oder gegen die Vereinheitlichung,
die derartige Konstruktionen vorgaukeln, ein Stück weit anzudenken. Doch an dieser Stelle
mag es zunächst einmal genügen, die Bildungsreise als eine Sonderform des Reisens aufzufassen,
deren Zweck in der Bildung liegt. Der Bildungsreisende wäre demnach jemand, der eine Reise explizit
mit dem Ziel antritt, eine subjektive Veränderung seiner Sichtweisen, Wissensformen, Umgangsweisen,
Perspektiven auf sich und die Welt und so weiter zu verändern. Bezieht man diesen Aspekt
nun noch einmal auf das, was bisher allgemein über das Wesen des Reisens ausgesagt wurde,
dann könnte man mit Carl Peter Elis auch konstatieren, dass jede Reise eine wie auch immer geartete
Bildungswirksamkeit besitzt, ich zitiere. Denn allein das bloße Hinaustreten aus der gewohnten
Umgebung eröffnet neue Sichtweisen. Selbst ganz banale Dinge wie das Umrechnen in eine
andere Währung, das passive Hören fremder Sprachen oder das Kennenlernen fremder Sitten
und Bräuche erweitert den eigenen Horizont. Zitat Ende. Selbst innerhalb Europas sind
sehr unterschiedliche Verhalten zu beobachten. Das heißt, diese Fremdheitserfahrungen könnten
sozusagen ohne weiteres auch bei Kurzreisen innerhalb Europas erfahren werden. Bräuche
und Sitten, Rituale und Umgangsformen, Esskultur, Wohnkultur, Kleidung, Traditionen, Verhalten
im Straßenverkehr, Verhalten gegenüber Fremden, das Preisgefüge, Hotelausstattungen und so
weiter und so fort. Wem von Ihnen würde hierzu nicht ein zumindest bemerkenswertes
Erlebnis während einer Reise in den Sinn kommen? Also kurz, man könnte sagen Reisen
bildet. Doch die Frage ist, sind dann alle Reisen auch Bildungsreisen? Meines Erachtens
nicht. Denn es kommt sehr stark auf die Perspektive des Reisenden an. Für einen Bildungsreisenden
wären befremdende Erlebnisse keine unangenehmen Begleiterscheinungen, keine bedrängenden
Situationen, die einem widerfahren, sondern vielmehr Kern der subjektiven Bedeutung der
Reise. Allgemein gesagt wäre eine Bildungsreise also mit dem expliziten Vorhaben verknüpft,
etwas über das Fremde zu erfahren, sich mit dem anderen, dem Unbekannten oder dem Ungekannten
auseinanderzusetzen, dieses auf sich wirken zu lassen und, soweit es zumindest geht, das
geht nicht immer und nicht überall, aber zumindest kann man es versuchen, sich dieses
Fremde anzueignen und es auf sich und seine eigene Existenz zu beziehen. Dementsprechend
wäre der Wunsch nach Sonne und Wärme ein durchaus legitimer Grund, zum Beispiel für
eine Reise nach Süditalien. Eine Bildungsreise nach Süditalien müsste jedoch in irgendeiner
Form eine produktive Fremdsicht auf Süditalien wirksam werden lassen, die die eigenen Vorstellungen,
Verhaltensweisen, Wahrnehmungen oder Handlungen relativiert, verändert oder ausweitet. In
sofern fange eine Bildungsreise nach Süditalien nicht erst beim Besuch des antiken Pompeii
an, sondern damit, Süditalien mit wachen Sinnen zu erfahren, sich auf das, was dort
in Erscheinung tritt, sich vielseitig einzulassen und diese Vielheit auf sich zu beziehen.
Eine Bildungsreise wäre in dieser Perspektive eben nicht gleichzusetzen mit dem Absolvieren
eines Kulturprogramms, sondern würde eher eine subjektive Haltung im Sinne einer Einstellung
zur Welt bedeuten, die man bereist. Erachtet man nun Bildung als Prozess und Resultat der
Herstellung eines, Achtung jetzt wird es ein bisschen schwierig, aktiven und progressiven
Selbst- und Weltverhältnisses im Sinne einer reflektierten Praxis der Subjektivierung von
Welt und fokussiert man das Prinzip des Reisens auf die Bereitung der Möglichkeit einer aktiven
Erfahrung von Andersartigkeit oder Fremdheit, dann bestünde tatsächlich die Möglichkeit,
Reisen als ein strukturell eigenständiges Bildungsprinzip zu verstehen. Wenn Bildung
ein Prinzip ist, das nicht nur das Erlernen von Wissens- und Könnensformen, von Werthaltungen
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:27:52 Min
Aufnahmedatum
2013-05-08
Hochgeladen am
2014-01-09 12:29:55
Sprache
de-DE
Was ist eigentlich eine Bildungsreise und welchen Beitrag kann sie zur Erfahrung der Ästhetik Europas leisten? Was nimmt man wahr, wenn man reisend die Ästhetik Europas erfahren möchte? Was zeichnet einen Bildungsreisenden aus und inwiefern kann eine Bildungsreise das Projekt des geeinten Europas befördern?
Um diesen Fragen nachzugehen, skizziert der Vortrag zunächst eine Struktur- bzw. Begriffstheorie dessen, was als Bildungsreise bezeichnet werden kann, um dann darzulegen, inwiefern das Prinzip des Reisens als eine eigenständige Form der Bildung zu erachten ist. Darauf aufbauend wirft der Vortrag einen näheren Blick auf das Ästhetische als elementare Weltzugangsmöglichkeit des Menschen, die sich durch ein reflexives Thematischwerden der Sinnlichkeit hinsichtlich erscheinender Phänomene auszeichnet.
Nach einem Exkurs, der der Frage nachgeht, was man sich nun unter der Ästhetik Europas vorstellen kann, bzw. welche Ideen, Logiken, Traditionen, Differenzen und Gemeinsamkeiten sich zeigen, wenn man das Reden über die Ästhetik Europas näher beleuchtet, wird abschließend der Versuch unternommen, das ästhetische Bildungsreisen als ein Prinzip aufzufassen, das dem einzelnen Menschen die Möglichkeit bereitet, in konkreten Situationen die Komplexität und Vielschichtigkeit der Ästhetik Europas mit eigenen Sinnen wahrzunehmen, sozusagen am eigenen Leib zu erspüren und auf sich und seine eigene kulturelle Existenz zu beziehen, um letztlich ein reflexives Bewusstsein für kulturell-ästhetische Differenzen und Konvergenzen, Alteritäten und Identitäten in Europa ausbilden zu können.
Eine ästhetische Bildungsreise würde in dieser Perspektive schließlich sowohl vielschichtige Verknüpfungen zwischen Ich und Welt ermöglichen als auch umfassende kulturelle Reflexionsprozesse in Gang setzen können, die das kulturell Eigene und das kulturell Fremde genauso bewusst werden lassen, wie das Verhältnis von individuell-subjektiven Kulturformen zu kollektiv-objektiven Kulturformen. Und dies wiederum könnte durchaus als ein je individueller Beitrag zum Projekt des geeinten Europas verstanden werden.