Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende,
die Universitätsringvorlesung hat in diesem Jahr einen sehr vielversprechenden, ja großartigen
Titel. Die Ästhetik Europas. Ein Titel, zu dem jeden von uns viele Gedanken durch den Kopf gehen und
viele Bilder, Töne und Geschichten einfallen. Bilder aus der kulturellen Geschichte, aus der
aktuellen medialen Realität oder auch sehr bedeutsam aus den eigenen ästhetischen Erfahrungen,
die man zum Beispiel durch Reisen in Europa gemacht hat. Auf den zweiten Blick allerdings
wird man stutzig. Was kann und sollte eine Ästhetik Europas denn sein? Ist es überhaupt
möglich, eine solche Ästhetik beschreiben oder rekonstruieren zu können? Auf welchen
geografischen, historischen, kulturellen, religiösen, politischen oder ideellen Rahmen soll man sich
beziehen, wenn man über die Ästhetik Europas spricht? Immerhin sprechen wir über zur Zeit 46
Staaten, die ganz oder teilweise zu Europa gezählt werden. Und zudem ist es nicht schon vermessen,
davon auszugehen, es gäbe die Ästhetik Europas, wenn sich die Ästhetik Deutschlands, ja Bayerns
oder selbst die Ästhetik Frankens kaum skizzieren lässt. Was könnte man also als die Ästhetik Europas
verstehen oder vorsichtiger gefragt, wie könnte man sich einer solchen Ästhetik annähern?
Eine erste Möglichkeit besteht wohl darin, die Kunst- und Kulturgeschichte zu Rate zu ziehen. Man
muss hier beachten, dass man dabei die schönen Künste, also wie das Theater, die Musik und die
Literatur und so weiter und die nützlichen Künste, wie die Architektur, die Ernährung,
die Mode, die Medizin oder die Erziehung unterscheiden kann. Vielleicht ist ja die
Ästhetik Europas gerade auf dem Gebiet der nicht so schönen Künste weltgeschichtlich wesentlich
wirkungsmächtiger geworden, als auf dem Gebiet, der sich gelegentlich zumindest auf einen speziellen
Expertenkreis beziehenden schönen Künste. Denkt man an die nützlichen Künste Europas, dann kann
man etwa an die Medizin erinnern, die schon in der Antike eine Lebenskunst war, an unterschiedliche
Kultivierungstechniken, die sich im Mittelmeerraum mit dem Wein und seinem Genuss beschäftigten,
oder an die Gartenbaukunst, die ihre englischen und französischen Ausgestaltungen erfahren hat.
In einer zweiten Hinsicht können wir ideeller verfahren. Wir können uns theoretische Modelle
der Ästhetik, der verschiedenen Künste, des Künstlers oder auch des Publikums vor Augen führen.
Hier hat sich Europa angefangen von der griechischen Mythologie bis hinein in die aktuellen
postmodernen Debatten um die Ästhetik, eine Fülle von Konzeptionen, Theorien, Einsichten,
Perspektiven und so weiter erarbeitet. Man denke nur an die großartigen antiken Modelle der
ästhetischen Musse, die religiösen Schönheitsideale des Mittelalters oder die Genie-Ästhetik der
Moderne. In einer dritten lohnenswerten Hinsicht könnte man sich den ästhetischen Institutionen
Europas widmen, also dem Theater, dem Tempel, der Kirche, dem Kloster, der Schule, der Oper,
der Kunstakademie, dem Fotolabor, dem Kino. Hier wäre also zu fragen, wo die Ästhetik Europas
entstanden ist und wo sie heute noch entsteht. Und vielleicht würde man zu der Einsicht kommen,
dass jahrhundertelang die schönen Künste auch und gerade durch die nicht so schönen Institutionen
wie Schulen und Kirchen vermittelt worden sind. Auf die aktuelle Situation bezogen könnte man
dann vielleicht sagen, dass vieles was wir über die Ästhetik Europas wissen durch die Medien,
sprich durch das Fernsehen und durch das Internet in unseren Wissensfundos gelangt ist. Und
schließlich lässt sich auch ein Zugang zur Ästhetik Europas dadurch bahnen, dass man an Bilder
und Geschichten erinnert, in denen Europa einen, man könnte sagen signifikanten Ausdruck erfahren
hat. Insofern, und diese Perspektive versuche ich Ihnen vorzustellen, insofern spreche ich über
Ästhetik nicht im Sinne des ursprünglichen griechischen Begriffs der Aesthesis, also der
sinnlichen Wahrnehmung von Europa und auch nicht über die Ästhetik als Theorie des Schönen oder
der Künste. Mir geht es in dem Vortrag um eine Ästhetik als metaphorischen Zugang zu Europa,
um Sinnbilder und Sinngeschichten, in denen sich Europa quasi verkörpert hat. Es geht also um
ästhetische Möglichkeiten Europa zu verstehen, also um Europa oder Europäisches in einem ästhetischen
Rahmen. Und vielleicht ist da diese Art der Präsentation, insbesondere der Ästhetik und
den Künsten sehr angemessen, die ja häufig als kreative Möglichkeiten Verstanden werden.
Dabei kommt, und das wird vielleicht einige enttäuschen, eine kunsthistorische oder
Presenters
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:28:07 Min
Aufnahmedatum
2013-05-08
Hochgeladen am
2013-12-12 15:32:39
Sprache
de-DE
In dem Vortrag wird ein Zugang zur Ästhetik Europas dadurch gesucht, dass man an Bilder und Geschichten erinnert, in denen Europa einen, man könnte sagen, signifikanten Ausdruck erfahren hat. Insofern wird Ästhetik nicht im Sinne des ursprünglichen gr. Begriffs der aisthesis, der sinnlichen Wahrnehmung von Europa verstanden. Und auch nicht über die Ästhetik als Theorie des Schönen oder der Künste. Es geht um eine Ästhetik als metaphorischen Zugang zu Europa, um Sinnbilder und Sinngeschichten, in denen sich Europa quasi verkörpert hat. Die leitende Frage ist sehr einfach: Was „sehen“ wir oder was stellen wir uns vor, wenn „wir“ über Europa nachdenken? Welche Bilder und Geschichten gehen uns dabei durch den Kopf?
Sechs Zugänge werden zunächst vorgestellt: 1. Die griechische Mythologie, in der Europa der Name einer phönizischen Königstochter war; 2. Platon und sein „Höhlengleichnis“ , in der um das Sehen, die Sonne, das Licht, den Weg nach oben – und um die Bildung, die Wahrheit, die Vernunft und die Philosophie geht; 3. das Bild von Europa als Haus oder als Festung geht mit einer restriktiven Einwanderungs- und Migrationspolitik, aber auch mit Fragen der Gastlichkeit und Gastfreundschaft einher. 4. Eine weitere wichtige und bis heute bedeutsame Dimension Europas ist die christliche Religion und die mit ihr verbundenen Aspekte des Todes und des Lebens. 5. Auch die europäischen Menschenbilder der homo tranquillus und der homo faber bzw. die vita contemplativa und die vita activa sind enorm bedeutsam. 6. Europa, das war und ist, spätestens seit 1492, der Entdeckung Amerikas, ein ästhetisches Projekt der Zivilisierung und Kultivierung der Welt. 7. Und auch die Idee der Einheit Europas bildet mit der Europaflagge eine eigene Ästhetik aus, die den vollständigen und vollkommenen Zustand Europas schon visionär vorwegnimmt.
Der Vortrag erinnert noch an eine andere Tradition, die man eine europäische Ästhetik des Grauens nennen könnte. Vorgestellt wird ein Beispiel aus Primo Levis Buch „Ist das ein Mensch?“, ein Buch, das seinen Erlebnissen vom Februar 1944 bis zu Befreiung des Vernichtungslagers im Januar 1945 gewidmet ist.
Schließlich wird versucht, die These plausibel zu machen, dass wir den Orient nicht vergessen dürfen, wenn wir über die Ästhetik Europas reden.