Der Historiker Reinhard Kozelek hat in seinen richtungsweisenden Studien zur sogenannten
Sattelzeit, also der Umbruchskrise um 1800, herausgearbeitet, dass sich in der Neuzeit
das Verhalten zur Geschichte und in diesem Zusammenhang auch der Umgang mit Zukunft
tiefgreifend verändert hat. Erstens wird Zukunft seit der Etablierung des
aufklärerischen Geschichtdenkens nicht mehr als Szenario eines göttlichen Willens und
damit eigentlich als vorherbestimmt betrachtet, sondern als prinzipiell offen und durch menschliches
Einwirken gestaltbar. Zweitens erscheint die Antizipation von Zukunft, die nun mit der
geistigen Autonomie und der Geschichtsmächtigkeit des Subjekts zusammen gedacht wird als unmittelbares
Resultat aus der Erfahrung von Gegenwart und Vergangenheit. Zukunftsentwürfe speisen sich
aus der Unzulänglichkeit oder auch aus dem Potenzial des Vorhandenen, das zu einem Besseren
gewendet werden soll. Durch Denkbewegung, instrumentelle Vernunft und praktisches Handeln.
Das so veränderte neuzeitliche Zeit- und Geschichtsbewusstsein, die Verschränkung von
Erinnerung, Gegenwartdiagnose und fortschrittsoptimistischer Zukunftserwartung,
beschreibt Reinhard Kozelek prägnant in seinem Aufsatz über die Verfügbarkeit der Geschichte,
der ja schon einen sprechenden Titel hat, im Band vergangene Zukunft. Man kann sagen,
dass das geschichtspfilosophische Paradigma bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wirksam ist,
womöglich bis heute. Andererseits, und das ist der Ausgangspunkt meines heutigen Vortrags,
haben sich spätestens im 20. Jahrhundert auch pessimistische Zukunftsvorstellungen und ein
zivilisationskritischer Fatalismus ausgebildet. Horror und Hoffnung, Zukunftdenken in der Literatur
des 20. Jahrhunderts, lautet mein Thema. Und dem Titel liegt die Prämisse zugrunde, dass in der
späten Moderne das Verhältnis zur Zukunft prekär geworden ist. Während, wie gesagt,
seit der Aufklärung Zukunft als ein offener, gestaltbarer Planungshorizont im Sinne eines
teleologischen Geschichtstenkens und des neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus erschien,
kehrt diese Perspektive sich im 20. Jahrhundert ins Negative um. Angst vor der Zukunft und
katastrophische Visionen hat es zwar auch immer schon gegeben. Die neue Qualität in der Moderne
besteht aber darin, dass, entsprechend dem Paradigma der machbaren Zukunft, nun auch der Mensch
für die Zivilisationsbrüche nie gekannten Ausmaßes verantwortlich gemacht wird, die
das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Weltkriege, Genozid und Atombombe sind hier zu nennen, aber
auch die drohende Bevölkerungsexplosion, Umweltzerstörung und die Expansion von
Gewalt in der Konfrontation der Kulturen. Im Angesicht der Komplexitätssteigerung und der
massiven Erfahrung von Destruktion und Barbarei, verschränken sich in der Moderne Horror und
Hoffnung zu einem Paradox, deshalb das und und nicht etwa ein oder im Titel meines Vortrags.
Nun spreche ich heute im Rahmen dieser Universitätsringvorlesung nicht als
Historikerin, auch nicht als Soziologin oder Psychologin zu Ihnen, sondern als
Literaturwissenschaftlerin. Welche Rolle oder welchen Stellenwert spielt die Literatur als
Medium des Nachdenkens über Zukunft als Herausforderung? Eine der Möglichkeiten,
eine der sozio-kulturellen Funktionen von Literatur ist es, in gedanklichen Experimentierfeldern
bzw. in Form eines fantasierten Probehandelns Varianten des Künftigen zu denken und Modelle
der Zukunftsbewältigung zu entwickeln. Vorstellungen von Zukunft können aus einer
Bestandsaufnahme der Gegenwart oder auch der Vergangenheit das Erwartbare ableiten und
entsprechende Szenarien beschreiben. Sie können aus der Erfahrung eines Mangels Gegenutopien
entwickeln oder sie können ausgehend von radikaler Kritik in apokalyptischen Visionen
letztlich die Zukunft negieren. Abgesehen davon, dass die Thematisierung der Zukunft als etwas
kontingentes und nicht wissbares ein häufiger Gegenstand fiktionaler Literatur ist, leistet
die Literatur noch einen weiteren Beitrag. Sie erprobt nämlich nicht nur fingierte Szenarien
der Zukunft, behandelt also Zukunft nicht nur als Thema, sondern sie experimentiert auch mit
Verfahren der Sagbarkeit, der sprachlichen Erfassung des noch nicht existenten Zukunftigen.
Darauf möchte ich in meinem Vortrag in erster Linie mich konzentrieren, denn über literarische
Utopien, Science Fiction und so weiter ist schon sehr viel gesagt worden. Es soll also im Folgenden
weniger um Brave New World, 1984 oder Star Trek gehen, sondern vielmehr um poetische
Presenters
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:27:58 Min
Aufnahmedatum
2010-07-14
Hochgeladen am
2020-03-20 09:54:27
Sprache
de-DE
Am Ausgangspunkt der Überlegungen stehen zwei philosophische Positionen, die im 20. Jahrhundert im Angesicht der Krise der Moderne richtungsweisende Modelle des Umgangs mit und des Entwerfens von Zukunft entwickelt haben: Walter Benjamins Vision vom Engel der Geschichte" einerseits, Ernst Blochs Prinzip Hoffnung" andererseits. Beide Modelle haben literarische Antizipationen und Darstellungsweisen der Zukunft entscheidend geprägt: Walter Benjamins Methode, Zukunft im Angesicht des zerstörerischen Geschichtsverlaufs, also in unmittelbar kritischer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu denken; und Ernst Blochs Vision der Konkreten Utopie", die aus der Mangelerfahrung der Gegenwart ein produktives Potential entbindet. Im Vortrag geht es nicht nur um die inhaltlichen Füllungen, sondern auch um die sprachlich-ästhetischen Strategien der Darstellung (des Nicht-Darstellbaren) in literarischen Texten. Im Zentrum stehen exemplarisch Werke von Ilse Aichinger (Die größere Hoffnung, 1947), Günter Eich (Träume", 1952), Ingeborg Bachmann (Böhmen liegt am Meer", 1964) und Christa Wolf (Kassandra, 1982).