Industrieromane wollten vor allem zweierlei. Sie wollten ihr Publikum rühren und zu sozialem
Engagement bewegen und sie wollten die Armut und die Arbeiterklasse realistisch beschreiben und
damit dem bürgerlichen Publikum etwas ihm Fremdes näherbringen, verständlich machen.
Neben dem äußeren Faktor, nämlich der Vielzahl von Autorinnen, gibt es einen inneren Faktor,
der Industrieromane und Frauen eng miteinander verknüpft. In den Texten selbst sind Frauen
Figuren von großer Bedeutung. Die Darstellung weiblicher Erfahrung rückt in den Vordergrund
und wird zur sozialpolitischen Strategie. Dies gilt auch für die von Männern geschriebenen
Industrieromane. Einer der bekanntesten dieser Romane ist Charles Dickens Hard Times for These
Times aus dem Jahre 1854. Dieser schon im Titel entsprechend gekennzeichnete Zeitroman, harte Zeiten
für diese Zeiten, spielt um 1850 in der fiktiven nordenglischen Stadt Cogetown. Thomas Greatgrind,
ein angesehener Bürger und Mitglied des Unterhauses, hat seine Kinder Tom und Luisa,
nach den Prinzipien erzogen, die auch er als einstiger Schulleiter strikt angewandt hat.
Sein Motto ist Fakten, Fakten, Fakten. Seiner Überzeugung nach soll nicht das Herz und die
Fantasie, sondern Zahlen und Fakten die Basis für die Erziehung bilden. Das Ergebnis seiner
Faktenphilosophie und das Ergebnis seiner Erziehung ist totale Distanz und völlige
Entfremdung und zwar sowohl im Privatfamiliären als auch im öffentlich-gesellschaftlichen Bereich.
In Ehe und Familie, einer nach damaligen Vorstellung idealen natürlichen Gemeinschaft,
dringen Rationalität und Berechenbarkeit ein. Greatgrind selbst hat seine Frau, die ein reines
Schattendasein neben ihm führt, unter folgenden Gesichtspunkten ausgewählt. Erstens war sie höchst
zufriedenstellend, was die Zahlen anging und zweitens war sie frei von jeglichem Unsinn. Mit
Unsinn meinte er Fantasie. Die Eheschließung seiner Tochter Luisa wird zur geschäftlichen
Transaktion. Greatgrind verheiratet sie mit dem gleichaltrigen, das heißt mit ihm gleichaltrigen,
Boundaby, einem Webereibesitzer und Bankier, der sich berüstet ein Selfmade-Man zu sein. Luisa
akzeptiert Boundabys Heiratsantrag mit einem indifferent apathischen Was-Solls. Luisas Beziehung
zu ihrem Vater und zu ihrem Ehemann ist durch Rationalität, Distanz und Unverständnis
gekennzeichnet, ebenso wie die Beziehung des Bürgertums zur Arbeiterklasse ist. Luisas Haltung
gegenüber den Arbeitern ist hierfür prototypisch. Ich zitiere. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Luisa
in die Unterkünfte der Arbeiter von Coketown gekommen. Zum ersten Mal in ihrem Leben begegnete
ihr so etwas wie Individualität im Zusammenhang mit ihnen. Sie wusste von ihrer Existenz nur in
Form von Hunderten und Tausenden. Sie wusste welche Arbeitsergebnisse eine bestimmte Zahl von ihnen
innerhalb einer bestimmten Zeit erbringen würde, mehr nicht. Das Thema der Unterdrückung und der
Rebellion ist in diesem Roman sowohl ein ähnliches als auch ein industrielles Problem. Die Arbeiter
planen einen Streik und Luisa begeht beinahe einen Ehebruch. Nach viktorianischen Auffassungen ist
Ersteres eine ökonomische und politische, Letzteres eine moralische Katastrophe. Luisas
verkümmerte Emotionalität und ihr unterdrücktes Begehren stehen, wie die Feuermetaphorik im Roman
zeigt, in direkter Analogie zur Industriestadt Coketown. In einem Gespräch mit ihrem Vater
betrachtet Luisa die Schornsteine der Stadt und sagt dort scheint nichts zu sein als monotoner
Rauch, aber wenn die Nacht kommt bricht das Feuer aus, Vater. Und ihr Vater antwortet natürlich,
ich weiß das Luisa, ich verstehe nicht worauf du hinaus willst und so beteuert der Erzähler,
er verstand es tatsächlich nicht. Letztlich ist es allein die Figur Sissy, ein kulturhistorisch
gewichtiger Name, die einst in die Familie Grabgrind aufgenommene Tochter eines Zirkus-Clowns,
die Luisa neuen Mut gibt. Sie kommt aus einer Welt, aus der Zirkuswelt nämlich, welche
fantasievolles Verstehen und Kooperatives miteinander beinhaltet. Sie ist die gute
Fee des Romans und überträgt zweckfreie Liebe, also das Gegenteil von rationellem Kalkül,
auf die materialistische Faktenwelt von Coketown. Aber die Figur Sissy wird nicht realistisch
konkret dargestellt, sondern allegorisch abstrakt. Sie repräsentiert das Prinzip des weiblichen.
Sissy wird nicht zu reifen Frau, sondern sie bleibt kindlich. Sie ist die typische dickensche
Kinderfrau. Ihr eigentliches Begehren richtet sich darauf, ihren geliebten Vater wiederzusehen.
Eine solche weibliche Figur kann für patriarchalische Herrschaftsformen instrumentalisiert
werden. Sie kann ihnen hinzugefügt werden, ohne diese zu bedrohen. In Elisabeth Gaskells Roman
Presenters
Prof. Dr. Doris Feldmann
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:27:46 Min
Aufnahmedatum
2000-01-13
Hochgeladen am
2018-06-20 12:35:44
Sprache
de-DE