Die Formalisierung von Theorien in den Human- und Sozialwissenschaften. Wissenschaftstheoretische Perspektiven [ID:35872]
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Meine Damen und Herren, den folgenden Vortrag habe ich mit leicht geändertem Titel am 12. Juli 2021

im Forschungskollokium zum Thema Theoriebildung und Formalisierung in den Human- und Sozialwissenschaften

am Methodenkompetenzzentrum der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Universität Chemnitz gehalten.

Ich habe ihn am 17. Juli 2021 neu eingesprochen, um ihn einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Mein Vortrag glädert sich in fünf Teile. Ich kläre meine Grundbegriffe, insbesondere die Begriffe der Formalisierung

und der wissenschaftlichen Theorie und präsentiere wissenschaftstheoretische Argumente, die zugunsten einer Formalisierung

von Theorien vorgetragen wurden. Ich unterscheide zwei Verfahren, die in Anschluss an die Formalisierung zur Anwendung kommen müssen.

Ohne sie ist schlechterdings kein Ergebnis zu erzielen, die mathematische Analyse und die Computersimulation.

Ich befasse mich mit der Rolle der Idealisierungen bei der Modellbildung und stelle jüngere Diskussionsbeiträge

aus der Wissenschaftstheorie vor, insbesondere jene zu sogenannten Toy-Models.

Ich arbeite die Grenzen der Formalisierung in den Human- und Sozialwissenschaften am Beispiel der Soziologie heraus

und schließlich fünftens, ich fasse die Ergebnisse getrennt für Sozial- und Humanwissenschaften zusammen.

Dabei gehe ich davon aus, dass Sie Human- oder Sozialwissenschaften studiert haben.

Es geht mir in diesem Vortrag insbesondere darum, unrealistische Erwartungen abzubauen,

die bei neuen Anwendern und Anwenderinnen, aber auch bei außenstehenden Personen, etwa Wissenschaftlerinnen anderer Disziplinen,

mit der Formalisierung von Theorien in den Human- und Sozialwissenschaften verbunden werden.

Ich möchte zunächst meine Grundbegriffe definieren.

Im engeren Sinne der Wissenschaftstheorie bedeutet Formalisierung die Beschreibung eines Phänomens

oder die Formulierung einer Theorie in einer formalen Sprache, deren Axiomatisierung und als letzte Stufe die Kalkulisierung.

Eine formalisierte Theorie bezeichnet in der klassischen Mathematik ein System von Sätzen einer Theorie,

die durch logische Schlüsse aus den Axiomen abgeleitet werden.

Patrick Zappes, auf dessen Argumente ich gleich eingehen werde, versteht unter Formalisierung eine Standardmengentheoretische Formulierung.

In Anlehnung an den kritischen Rationalismus will ich für diesen Vortrag eine Minimaldefinition einer Theorie zugrunde legen,

die als eine Theorie ein System von Aussagen auffasst, das in sich widerspruchsfrei ist und das mindestens eine empirisch prüfbare Hypothese enthält.

Eine Theorie ist desto besser, je mehr Phänomene sie erklärt und voraussagt, je präziser ihre Erklärungen und Voraussagen sind,

je einfacher sie ist, das heißt, je weniger begriffen und unprüfbaren Annahmen die Theorie besteht,

je größer die Prüfbarkeit und Beobachtbarkeit ihrer Aussagen und Konstrukte ist und je mehr sie durch empirische Befunde gestützt wird.

Zudem lege ich als allgemeines Prinzip der Theoriebildung zugrunde, dass jede Theorie notwendigerweise auf Annahmen beruht,

die nicht völlig zutreffen und oder tatsächliche Sachverhalte ausblenden.

Dass ich mich für die Minimaldefinition einer Theorie am kritischen Rationalismus orientiere, bedeutet jedoch nicht, dass er all meinen Aussagen zugrunde legt.

Wenn ich in diesem Vortrag von einer Theorie spreche, meine ich damit immer eine verbal formulierte Theorie,

da Theorien in den Human- und Sozialwissenschaften typischerweise verbal formuliert sind.

Im Wesentlichen gibt es hierzu in den Sozialwissenschaften nur eine markante Ausnahme,

nämlich die Rational Choice Theorie in ihren verschiedenen Varianten, die sowohl als verbal formulierte wie als formalisierte Theorie vorliegt.

Aus wissenschafts-philosophischer Perspektive hat Patrick Sappes in seinem grundlegenden Aufsatz, warum Formalisierung in den Sozialwissenschaften erwünscht ist,

folgende Argumente zugunsten der Formalisierung von Theorien angeführt.

Das Argument der Explicitheit. Im Rahmen der Formalisierung werde die Bedeutung der verwendeten Begriffe in expliziter Weise herausgearbeitet.

Dabei werden Sappes auch die Beziehungen zwischen den Begriffen geklärt.

Das Argument der Standardisierung. Die Formalisierung habe die Standardisierung von Terminologie und Methoden der begrifflichen Analyse in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zur Folge.

Dies erleichtere, so Sappes, die Kommunikation zwischen verschiedenen Disziplinen und stärke die Einheit der Wissenschaft.

Das Argument der Allgemeinheit. Formalisierung beschränke sich auf das Wesentliche und verzichte auf unwesentliche Annahmen.

Sie gestatte es, wie sich Sappes ausdrückt, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen.

Das Argument der Objektivität. Formalisierung liefere einen Grad an Objektivität, der für nicht formalisierte Theorien unmöglich sei.

Dies sei, so Sappes insbesondere, für Wissensgebiete bedeutsam, bei denen Kontroversen schon über die elementarsten Grundbegriffe bestehen.

Was in den Sozialwissenschaften ja typischerweise der Fall ist.

Das Argument der Abgeschlossenheit der Annahmen. Die Formalisierung sei eine Zitatversicherung gegen Ad-hoc und Post-hoc-Verbalisierung.

Es werde zu Beginn festgelegt, welche Annahmen gemacht werden, und es sei nicht gestattet, diese beliebig zu verändern oder zu ergänzen, um Lösungen auszuschließen, die man nicht akzeptabel finde.

Schließlich das Argument der minimalen Annahmen. Formalisierung ermögliche eine objektive Analyse der minimalen Annahmen, die zur Formulierung einer Theorie nötig sei.

Dies sei ein direkter Test, ob man eine Theorie wirklich verstanden habe. Es sei auch ein Maß dafür, wie weit eine Theorie entwickelt sei.

Obwohl sich Sappes in diesem Aufsatz als Fürsprecher der Formalisierung von Theorien zu erkennen gibt, betont er für die philosophische Analyse, dass er in keiner Weise behaupte, dass die Formalisierung und Axtiomatisierung von Begriffen und Theorien die einzige Methode philosophischer Analyse sei.

Zugänglich über

Offener Zugang

Dauer

00:55:33 Min

Aufnahmedatum

2021-07-17

Hochgeladen am

2021-07-20 11:26:05

Sprache

de-DE

Der Vortrag diskutiert aus wissenschaftstheoretischer Perspektive, welche Bedeutung Idealisierungen für die Formalisierung von Theorien in den Sozial- und Humanwissenschaften haben und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. 

Tags

Formalisierung Theoriebildung Idealisierung toy models mathematische Analyse Computersimulation Sozialwissenschaften Humanwissenschaften
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