Die Vermenschlichung von Kleintieren. Grundlagen, Ausprägungen und Konsequenzen für die Tiermedizin [ID:35925]
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Meine Damen und Herren, den folgenden Vortrag habe ich am 5. März 2021 auf der Tagung der

Fachgruppe Zier, Zoo und Wildvögel, Reptilien, Amphibien und Fische der Deutschen Veterinärmedizinischen

Gesellschaft gehalten. Ich habe ihn am 23. Juli 2021 leicht modifiziert neu eingesprochen, um

ihn einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Lassen Sie mich mit einer Begriffsklärung

beginnen. Zunächst zum Begriff der Vermenschlichung. Sie bezeichnet die Zuschreibung von menschlichen

Eigenschaften zu nichtmenschlichen, zum Beispiel zu Tieren, Objekten und Ereignissen. Ich will mich

mit der Vermenschlichung von Tieren befassen, also mit der Zuschreibung von menschlichen

Eigenschaften zu Tieren. Diese steht der Verdinglichung von Tieren gegenüber, also der

Zuschreibung von Eigenschaften zu Tieren, die normalerweise Dinge besitzen, was man auch

Verzweckung genannt hat, mit den zentralen Merkmalen Besitztum, Instrumentalisierbarkeit,

Verletzbarkeit und Austauschbarkeit. Mein Vortrag gliedert sich in drei Teile. Grundlagen,

Ausprägungen und Konsequenzen für die Tiermedizin. Ich beginne mit den Grundlagen. Das sind aus meiner

Sicht paleoarchäologische Befunde. Der Archäologe Steven Meython argumentiert, dass die Fähigkeit

zur Vermenschlichung mit der Evolution des Gehirns des modernen Menschen Homo sapiens sapiens

entstand und zwar vor circa 40.000 Jahren. Dem Neandertaler Homo neandertalensis habe diese

Fähigkeit noch gefehlt. Damals sei es zu einer radikalen Veränderung des funktionalen Aufbaus

des Gehirns gekommen. Die vormals getrennt arbeiteten Module für Soziales, Natur, Technik

und alltägliches Problemlösen und Entscheiden hätten begonnen Informationen und Wissen auszutauschen.

Er bezeichnet dies als cognitive fluidity. Beim Neandertaler sei das Wissen über das soziale Leben

streng getrennt gewesen vom handwerklichen Wissen und vom Wissen über die Natur, zum Beispiel die

Tiere und die Jagd. Die Fähigkeit zur Vermenschlichung sei zur selben Zeit entstanden. In der Archäologen

nachweisen können, dass Homo sapiens sapiens die ersten Kunstwerke herstellt, komplexere Werkzeuge

erstellt und religiöse Praktiken durchführt. Hier wird auch von einer cultural explosion gesprochen.

Die Homo sapiens Frau aus der linken Abbildung sehen Sie nun rechts mit Abbildungen einiger

Kunstwerke und komplexen Werkzeugen dieser Zeit. Mich interessiert nur diese Felsmalerei,

die Maithen als anthropomorphisierend beschreibt. Homo sapiens, so Maithen, habe sein Wissen über

das soziale Leben auf die Tiere und die Jagd übertragen. Der Homo sapiens habe seine eigenen

Gedanken oder anders formuliert sein Wissen über sich als Modell verwendet und auf andere

übertragen, zunächst auf andere Menschen, dann kommt der Schritt, der ihn so vom Neandertaler

unterscheidet, auf Tiere. Diese Entwicklung habe Homo sapiens zu einem Superjäger gemacht,

weil er sich in das von ihm gejagte Wildhabe hineinversetzen können. Anthropomorphes Denken

habe sich ausgebreitet, weil es große Überlebensvorteile mit sich brachte. Das

abgebildete Wesen wird als Zauberer oder Hexenmeister, Englisch Sorcerer, bezeichnet.

Ich zeige es gleich in Vergrößerung. Diese Felszeichnung stammt aus Frankreich, aus der

Höhle von Trois-Frères im Departement Ariège, das im Südwesten des Landes in der Region

Occitanien an der Grenze zu Spanien und Andorra liegt. Die Entstehung dieser Felszeichnung wird

auf ungefähr 13.000 vor Christus Geburt datiert. Sie befindet sich in einer Höhle, die als das

Heiligtum Englisch The Sanctuary bezeichnet wurde. Die Skizze, denn das ist ja offensichtlich keine

Fotografie einer Felszeichnung hier, sondern eine Skizze, die Sie hier sehen. Die Skizze,

die Sie sehen, stammt von Henri Brouill, einem französischen Jesuiten, Archäologen und Anthropologen,

der die Höhle erforschte. Sie zeigt eine Gestalt, die aufrecht geht, deren Beine und Hände menschlich

erscheinen, deren Rücken und Ohren verweisen jedoch auf einen Pflanzenfresser. Das Geweih erinnert an

ein Rentier, der Schweif an ein Pferd und der Fallus ist positioniert wie bei Katzenartigen.

So beschreibt Meithen diese Felszeichnung, deren Bedeutung unbekannt ist. In der Höhle finden sich

weitere sieben Felsmalereien, die Anthropomorfe gestalten und Mischwesen zeigen. Diese Felszeichnung

dient mir im Folgenden als bildhafte Erinnerung daran, wie tief die Vermenschlichung in unserem

Denken verankert ist. Es handelt sich, so argumentieren Paleoarchäologen, nicht um etwas,

was wir in unserer Sozialisation lernen und durch entsprechende Aufklärung leicht wieder

verlernen würden. Warum vermenschlichen wir? Die Psychologie liefert einerseits drei Erklärungen

dafür, das und wann Menschentiere vermenschlichen, nämlich erstens, wenn anthropozentrisches Wissen

Zugänglich über

Offener Zugang

Dauer

00:28:50 Min

Aufnahmedatum

2021-07-24

Hochgeladen am

2021-07-28 09:26:04

Sprache

de-DE

Die Ursachen und Formen der Vermenschlichung von Kleintieren sowie die Folgen für das Tierwohl sind Gegenstand kontrovers geführter Diskussionen. In einer qualitativ-sozialwissenschaftlichen Studie wurde für Vogelhalter, die ihre kranken Vögel zu Hause therapierten, analysiert, in welchen Kontexten der kranke Vogel im Hinblick auf welches Merkmal vermenschlicht oder vertierlicht wurde. Es zeigte sich, dass die Mensch-Tier-Grenze immer wieder neu ausgehandelt wird. Praktiken der Vermenschlichung und Vertierlichung haben einen Sinn, den Tierärzte verstehen lernen und in ihrer Wirkung auf die Tiergesundheit und das Tierwohl hin beeinflussen können.

Tags

Mensch-Tier-Beziehung Human Animal-Studies Anthropomorphismus private Tierhaltung Tiergesundheit
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