Gibt es eine genuin soziale Freiheit? Eine Auseinandersetzung mit soziologischen Konzepten rund um relationale Autonomie und Selbstbestimmung [ID:49157]
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Meine Damen und Herren, den folgenden Vortrag habe ich am 23. September 2023 vor den Sektionen

Soziologie und Europäische Ethnologie auf der 125. Generalversammlung der Görösgesellschaft

in Tübingen gehalten. Ich habe ihn am 28. September als Video aufgezeichnet, um in

einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diesen Vortrag hören Sie jetzt.

Gibt es eine genuine soziale Freiheit, eine Auseinandersetzung mit soziologischen

Konzepten rund um relationale Autonomie und Selbstbestimmung? Um die Frage zu verstehen,

die dieser Vortrag erörtern möchte, sollte man sich bewusst machen, dass die Soziologie,

im Gegensatz zur Philosophie, der Politikwissenschaft und dem Recht, eine bemerkenswerte

Zurückhaltung gegenüber dem Begriff und dem Phänomen der Freiheit im Allgemeinen,

insbesondere aber auch der individuellen Freiheit kennzeichnet. Beispielhaft habe ich im Abstract zu

diesem Vortrag erwähnt, dass man in fast allen gängigen Handwörterbüchern des Faches einen

Eintrag zu diesem Begriff vermisst. Woran liegt das? Hier möchte ich den britisch-polnischen

Soziologen Zückenbaum anzitieren, der in seiner Monographie Freedom argumentiert,

die Soziologie habe sich als a science of unfreedom first and foremost entwickelt.

Ähnlich resoniert der amerikanische Soziologe Earl Babie in seinem Werk What is Society? und

fasst zusammen das surrendered freedom is the substance of society. Denn wenn Individuen als

frei beschrieben werden, etwa von der Philosophie, wieso zeigt ihr Handeln dann gewisse

Regelmäßigkeiten? Weil, so argumentieren bereits die soziologischen Klassiker, Klassen, Macht,

Herrschaft, Autorität, aber auch die Sozialisation, Ideologien, Kultur und Erziehung eine Form von

äußerem oder internalisiertem Zwang auf die Individuen ausüben, der ihre Willens- und

Handlungsfreiheit beschränkt. Dieser Sachverhalt wird auch als sozialer bzw. soziologischer

Determinismus bezeichnet. Für Durkheim, Marx, Weber, Foucault, Bourdieu und Archer erscheint

Freiheit daher eher als soziale Fiktion. Die Sozialstruktur stelle ganz im Sinne der Philosophie

ein äußeres Hindernis dar, dass es Individuen verunmögliche oder sie zumindest darin einschränke,

ein freies Leben zu führen. Wenn dennoch manche Sozialtheoretiker wie etwa Habermas, Gittens

oder Searle herausarbeiten, dass die Sozialstruktur Freiheit nicht nur einschränkt, sondern auch

ermöglicht, dann impliziert dies nicht, dass sie Konzepte sozialer Freiheit entwickeln. Auch

Sozialtheoretiker, die das spezifische Postmoderner Freiheit zu bestimmen suchen, so etwa Baumann,

Wagner und Brisching entwickeln nicht notwendigerweise ein explizites Konzept

sozialer Freiheit. Insgesamt wurde eine genuin soziale Freiheit aufgrund komplementärer

Blickverengungen oft übersehen. Aus diesem Grund ist die Frage nach einer genuin sozialen

Freiheit relativ jung, ohne dass sie jemals eine größere Aufmerksamkeit des Fachs auf sich

gezogen hat. Im Begleitdiskurs zu den Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie hat ein Konzept

sozialer Freiheit, dasjenige von Axel Honneth, eine gewisse Konjunktur erlebt, als es darum ging,

der Betonung individueller Freiheitsrechte durch Gegner der weitreichenden Freiheitseinschränkungen

etwas entgegenzusetzen, das den Anschein von Freiheit und nicht von Unfreiheit vermittelte.

Der für eine freiheitliche Demokratie naheliegende liberale Freiheitsbegriff schien gleichsam besetzt

durch die zivilgesellschaftlichen Gegner der Maßnahmen. Inzwischen, nach dem Ende der Pandemie,

ist das Interesse daran zurückgegangen. Im Kampf um die Freiheit, an den das Exposé zu dieser

Jahrestagung erinnert und im Diskurs um den Begriff Freiheit, der von Journalisten zur Floskel des

Jahres 2022 erklärt wurde, erscheint die Soziologie als Zaungast. Auch dies möchte ich auf die

oben ausgeführten Blickverengungen unseres Faches zurückführen. Sich von diesen Blickverengungen

zu lösen, ist eine wichtige Motivation für diesen Vortrag. Ich wünsche mir, dass wir Soziologinnen

Freiheit stärker in den Blick nehmen, als Idee, als Wert, als empirisches Phänomen, aber auch als

sozialen Status, als Mythos, als Recht oder als Lebensgefühl. Freiheit als soziale Freiheit zu

theoretisieren, ist dabei ein wichtiger Schritt in der Anhärung der Soziologie an den Forschungsgegenstand

der Freiheit. Daher will ich die Frage bearbeiten, ob es eine genuin soziale Freiheit gibt. Ich werde

diese Frage nicht ontologisch beantworten. Stattdessen wird der Vortrag sozial-philosophische und

theoretische Konzepte sozialer Freiheit vorstellen, mit einem spezifischen Fokus darauf, was sozial

dabei meint. Ich werde im zweiten Teil meines Vortrags eine Verbindung herstellen zum Thema

Zugänglich über

Offener Zugang

Dauer

00:45:10 Min

Aufnahmedatum

2023-09-28

Hochgeladen am

2023-09-29 10:16:03

Sprache

de-DE

Der Vortrag erörtert die Frage, ob es eine genuin soziale Freiheit gibt und was „sozial“ dabei meint, sowie Selbstbestimmung als eine Form von Freiheit.

Tags

Philosophie Selbstbestimmung Freiheit Soziologie
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