Meine Damen und Herren, herzlich willkommen. Zunächst können Sie sich vorstellen, wie schwer
es Agnes Bietmann fällt, dass sie heute aus Krankheitsgründen nicht da sein kann. Wenn ich
an ihrer Stelle spreche, dann klingt aber ihre Stimme sehr, sehr kräftig mit, denn wir haben die
Präsentation zusammen vorbereitet. Zuerst bittet aber Agnes Bietmann, mich einen ganz
herzlichen Dank auszusprechen, denn es ist für sie eine sehr große Ehre, dass sie heute
diesen Habilitationspreis entgegennehmen darf bzw. erhält. Jetzt fange ich an mit der Präsentation
und ich halte mich allerdings an den Text relativ stark, weil es ja auch der gemeinsame Text ist.
Die Geschichte der Habilitation von Agnes Bietmann beginnt mit einem Spaziergang und
mit einem Wortspiel. An einer Hauswand entdeckte sie dieses Graffito. Es faszinierte sie nicht
nur wegen seines hintergründigen Wortwitzes, sondern weil es einen Nerv trifft. Leben wir
doch in einer Zeit, in der die Trennung zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Fakt und Fiktion
längst porös bzw. lucide geworden ist. Dazu dachte sich Agnes Bietmann, hat die Literaturwissenschaft
etwas zu sagen. Realize scheinen seit einigen Jahren omnipräsent. Unterschiedliche Wirklichkeitsvisionen
oder Versionen zirkulieren ungehindert nebeneinander. Was Fakt und was Fake ist, lässt sich oft nicht
leicht entscheiden. So haben Verschwörungserzählungen in Konkurrenz zu wissenschaftlichen Erkenntnissen
Hochkonjunktur. In der Welt der Social Media ist es ein Leichtes mit gezielter Desinformation
massenhaft und schädigend zu wirken. Schließlich stellen die Möglichkeiten der KI, die Kategorien
von Realität und Fiktion radikal auf den Prüfstand. Realize, Realize, Realize. Agnes Bietmann versteht
sich vor diesem Hintergrund als eine Wissenschaftlerin, die diese Realize schulen möchte, also einen
realistischen, einen vernünftigen Blick. Und sie entwickelt ein Analyseinstrumentarium, das im
öffentlichen Bewusstsein dazu beitragen soll, zu realisieren, welche Rolle Realize im Diskurs der
Gegenwart spielen, woran man sie erkennt und wie man ihnen begegnen kann. Und hier bietet nun die
Literatur wertvolle Einsichten. Während literarische Texte in unserer Denkgewohnheit, seit Aristoteles
kann man sagen, selbstverständlich dem Bereich der Fiktion zugeordnet sind, beobachtet Agnes Bietmann
dass ungefähr seit den 2000er Jahren immer mehr in der Literatur mit dem Dokumentarischen gespielt
wird oder auch eine gezielte Mischung vorgenommen wird oder auch eine Grenzverwischung zwischen Fakt
und Fiktion. An dem von ihr ausgewählten Textkorpus lässt sich gut beobachten, wie das porös Werden
der Grenzen funktioniert und was aus ihm folgt. Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle kurz.
Dokumentation bedeutet das Zeigen von Fakten, von etwas, das in der wirklichen Welt existiert
oder sich ereignet hat. Dazu braucht man dokumentarisches Material, visuelle Veranschaulichungen,
akustische Vergegenwärtigungen, schriftliche Dokumente. Fiktion bzw. fiktionales Erzählen
bedeutet die Darstellung einer erfundenen oder wie Aristoteles sagt, einer möglichen Welt,
vor allem in der Literatur oder wie hier im Spielfilm, aber auch darüber hinaus, überall dort,
wo Narrative eingesetzt werden, um zu Veranschaulichen zu überzeugen oder auch zu manipulieren.
Agnes Bietmann hat in einer historischen und theoretischen Verordnung systematisch
verschiedene Arten des Vermischens von Dokumenten, Tieren und Fingieren typologisiert. Es geht dabei
nicht darum zu bewerten, was in einem Text wahr oder falsch ist. Vielmehr kann die Literaturwissenschaft
zeigen, mit welchen Mitteln Dinge als Fakt oder Fiktion markiert werden. Wir sprechen von
Fiktionalität oder Faktualität-Signalen. Ich zeige Ihnen hier eine Übersicht, das ist ein Kapitel
Ihrer Arbeit, so wie Camilla vorhin ihre Formel gezeigt hat. Sie müssen also keine Angst haben,
dass ich jetzt anfange, das im Einzelnen zu erklären. Wir haben stattdessen zwei Beispiele
mitgebracht. Die naheliegendste Variante sind fiktionale Texte mit dokumentarischen Bildern.
Dafür steht in der Arbeit unter anderem W.G. Sebald Osterlitz. Er beschreibt den Lebensweg
in diesem Roman des fiktiven 1934 in Prag geborenen jüdischen Wissenschaftlers Jacques
Osterlitz, der erst nach seiner akademischen Laufbahn seine Herkunft entdeckt und mit der
Erforschung seines eigenen Schicksals beginnt. Funktion der Doku-Fiktion ist die Authentifizierung
der rekonstruierten oder zusammengepusselten Lebensgeschichte, aber auch eine Mahnung und
Trauerarbeit angesichts der Schmerzenspuren der Geschichte. Eine solche Verfahrensweise des
Dokumentierens in fiktiven Texten finden wir sehr häufig im Rahmen der Erinnerungskultur.
Umgekehrt gibt es aber auch vermehrt Texte, die historische Zusammenhänge bewusst fiktionalisieren
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:08:30 Min
Aufnahmedatum
2024-10-22
Hochgeladen am
2024-10-29 10:56:05
Sprache
de-DE
Science Slam bei den FAU Awards 2024 von PD Dr. Agnes Bidmon (gehalten von Prof. Christine Lubkoll),Habilitationspreis der Philosophischen Fakultät und FAchbereich Theologie: Dokufiktionales Erzählen. Narrative Liminalität in der Gegenwartsliteratur