Meine Damen und Herren, den nun folgenden wissenschaftstheoretischen Vortrag
Wahrheit in der Soziologie habe ich am 21. Mai 2021 am Center for Interdisciplinary and
Intercultural Studies der Universität Tübingen gehalten. Ich habe ihn eine Woche später auf
der Basis meines Redemanuskriptes aufgezeichnet. Diese Aufzeichnung sehen Sie jetzt.
Mein Vortrag glittert sich in fünf Teile. Ich werde die Soziologie als multiparadigmatische
Wissenschaft einführen. Ich werde ein Fallbeispiel präsentieren. Ich werde Ihnen exemplarische
Werke und Studien vorstellen, die zeigen, wie die Soziologie soziale Freiheit erforscht. Danach
werde ich die Sozialwissenschaften wissenschaftstheoretisch verorten. Erst dann werde
ich mich den Wahrheitsansprüchen in der Soziologie zuwenden. Mein Vortrag endet mit fünf
zusammenfassenden Thesen. Ich gehe davon aus, dass die wenigsten von Ihnen Sozialwissenschaften
studiert haben. Ich stelle Ihnen daher erst einmal sozialwissenschaftliche Studien vor,
bevor ich über die dort relevanten Wahrheitsansprüche, die wissenschaftstheoretischen
Hintergründe und relevanten Wahrheitstheorien sowie die wissenschaftlichen Praktiken zur
Qualitätssicherung in der Forschung spreche. Die Soziologie, meine Damen und Herren,
sollte meines Erachtens als multiparadigmatische Wissenschaft begriffen werden. Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen, das Werk, in dem Thomas Kuhn diesen Begriff geprägt hat, enthält
ja eine interessante Aussage Kuhns zur Vorgeschichte dieses Werks. Darin erklärt er, dass er sich
1958-59 wunderte, Zitat, über das Ausmaß der offenen Meinungsverschiedenheiten unter den
Sozialwissenschaftlern, über das Wesen der sinnvollen sozialwissenschaftlichen Probleme
und richtigen Methoden. Der Versuch, die Ursachen dieser Differenzen über die Grundlagen auf den
Grund zu gehen, führte ihn dann dazu, den Begriff des Paradigmas vorzustellen. Im Folgenden beziehe
ich mich auf die von Chalmers rekonstruierte Definition. Demnach handelt es sich bei einem
Paradigma um allgemeine theoretische Annahmen und Gesetze sowie Techniken für ihre Anwendung,
die die scientific community einer bestimmten Wissenschaft anerkennt. Zentrales Merkmal,
so Kuhn, wenn man auf verschiedene Paradigmata blickt, ist ihre Inkommensurabilität. Die Liste
der Probleme, die als wichtig erachtet werden, die Normen für wissenschaftliches Handeln und die
Definitionen der Wissenschaft weichen voneinander ab. Die theoretischen Konzepte, auf die man sich
bezieht, sind nicht aneinanderanschlussfähig. In Kuhns Worten, wir stellen eine Lückenhaftigkeit
logischer Kontakte fest. In Anschluss an Kuhn könnte ich die Soziologie als noch unreife,
vorparadigmatische Wissenschaft betrachten oder als reife, aber eben etwas andere Wissenschaft,
nämlich als multiparadigmatisch. Ich bevorzuge die letztere Interpretation, da ich überzeugt bin,
dass die Streitigkeiten über unsere Grundlagen auch in den nächsten 100 Jahren nicht beigelegt
werden. Vielmehr bin ich überzeugt, dass sie mit unserem Erkenntnisgegenstand fundamental
verbunden sind mit der Komplexität menschlichen Handelns und dem Zusammenleben von Menschen in
Gesellschaften. Ich will nun sechs exemplarische Studien präsentieren. Anhand derer ich Ihnen
eine Vorstellung von aktueller soziologischer Forschung gebe. Als Beispiel dient mir die
Erforschung sozialer Freiheit. Wie erforscht die Soziologie soziale Freiheit? Sie erforscht
Freiheit als sozialen, kulturellen und politischen Leitwert, als Idee, als Recht, aber auch als sozialen
Status. Man denke nur an Leibeigenschaft und Sklaverei. Soziologie erforscht Freiheit aber
auch als Lebensgefühl und als Mythos, als empirisches Phänomen. Dass ich dieses Beispiel
gewählt habe, hängt mit meinem aktuellen Forschungsschwerpunkt zusammen. Ich leite derzeit
ein Forschungsprojekt zu Zukunftswerten an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Ich hätte
auch eine andere Fragestellung auswählen können. In meiner ersten Annäherung an die Studien geht
es mir darum, Ihnen eine Vorstellung von Fragestellungen, sozialwissenschaftlichen
Theoriegrundlagen, methodischem Vorgehen und Ergebnissen zu vermitteln. Wie erforscht die
empirische Sozialforschung Freiheit? Ich möchte drei Zugänge beschreiben. Zum einen kann Freiheit
als ein objektives Phänomen aufgefasst und erforscht werden. Einer solchen Studie liegt
dann die Annahme zugrunde, dass es verschiedene Arten und Grade von Freiheit gibt. Hier wird
eine Forscherin beispielsweise Skalen und Indizes auf Basis standardisierter Befragungen entwickeln,
um diese Arten und Grade von Freiheit zu beschreiben und gegebenenfalls zu erklären,
Presenters
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
01:12:12 Min
Aufnahmedatum
2021-05-21
Hochgeladen am
2025-06-25 08:36:03
Sprache
de-DE
Dieser Vortrag wurde am 21.5.2021 vor einem interdisziplinären Publikum am Center for Interdisciplinary and Cultural Studies der Universität Tübingen gehalten.