Ein Kalb war ich. Ich lag auf einem Wagen und der eisige Höllenschmerz, der in mir wütete,
kam von den Füßen, die grässlich zusammengeschnürt waren. Da lagen wir, ein ganzer Wagen voll
Kälber, auf und übereinander. Im Trab fuhr der Fuhrmann über Stock und Steine und jeder Ruck
schmerzte, als ob die Beine entzweirissen. Anfangs konnten wir noch brüllen, bald verging uns die
Kraft dazu. Endlich hielt der Wagen. Wir wurden hinuntergeworfen, die Bande aufgelöst, sollten
nun selbst laufen. Laufen mit zerschlagenem Kopf und erstarrten Beinen, laufen umringt von bellenden
Hunden und blutigen Menschen, die wir nie gesehen. Da bissen die Hunde uns in die Nase, die blutigen
Menschen schlugen uns mit schweren Knütteln auf den Kopf. So ging es einen langen, unendlichen Weg
einem großen Hause zu. Dort fasste man die Halbtoten wieder auf, schnürte noch fürchterlicher die
Füße zusammen, warf mich von allen das Erste auf einen blutigen Schragen. Vor mir stellte sich ein
fetter, blutiger Metzger. Während er mit Wolles sein Messer strich, rief er einem Jungen, ob er es
das erste Mal probieren wolle. Der Junge kam, lahm das Messer, stach es in meinen Hals, wühlte
damit dem Halse herum, aber es floss kein Blut. Ich konnte nicht sterben. In fürchterlicher Pein
rollte ich meine austretenden Augen, das sah ich über mir hängen, den Kopf einer geschlachteten Kuh.
In den hervorquellenden braunen Augen glänzte mir eine Schrift entgegen, wie sie dem Nebuchadneher
verglänzte an der Wand seiner Speisehalle. Sie lautete, du blutig, du fauler und unnützer Knecht,
leide, was deine Taten wert sind. Du lebst nur für deinen Leib, fühle nun an deinem Leib, was du an
anderen gesündigt. Im Halse wühlte mir immerfort das Messer, ich konnte nicht sterben. Die Pein
wuchs ins Unaussprechliche und am Herzen begannen zu Nagen, Buße und Reue. Das sah ich zerschmelzend
den Pein von neuem auf. Über mir hing noch der tote Kopf, aber in seinen Augen glänzte eine neue
Schrift, sie sagte, stehe auf, Diener deines Bauches, tue deine Pflicht, mache morgen gut,
was du seit Jahren veruntreut. Sonst wirst du Nacht um Nacht auf diesen Schragen kommen und
von Nacht zu Nacht soll steigen deine Pein, bis der Tote dich nimmt und zur Hölle bringt.
Da zuckte ich in Todesqualen. Ich sah auf nach den braunen, toten Augen, wollte um Erbarmen bitten,
aber keine Schrift sah ich mehr. Nichts mehr denselben als einen unaussprechlichen Schmerz.
Aber aus meinem Halse glitt das Messer, von den Füßen fielen die Stricke. Ich seufzte auf,
meine Glieder bewegten sich wieder, ich erwachte. In den Romanen, Erzählungen und Gedichten des
Schweizer Schriftstellers Jeremia Scotthelf haben Tiere große Bedeutung. Sie sind mehr als Statisten
im Dorfidylo oder Drama, sondern Akteurinnen, Rednerinnen, Briebschreiberinnen in den
verschiedensten Rollen und Funktionen. Jeremia Scotthelf, dessen Werke und dessen Romanen und
Erzählungen sein Berliner Verleger mit Ungeduld erwartete, dessen Werke mit denen der Zeitgenossen
Droste Hülshoff und Fontane in einem Atemzug genannt werden, war im Hauptberuf Pfarrer im
Emmental. Und die ländliche Umwelt seiner Gemeinde im frühen 19. Jahrhundert ist diejenige Skinerie,
auf die sich Schweizer Patriotinnen, also fast alle Schweizerinnen berufen, wenn sie das Ideal
der Schweiz ihrer Bewohnerinnen, ihrer Landschaft und Landwirtschaft in Vergangenheit und Gegenwart
bestören. Doch die Idylle ist brüchig und die Risse nicht nur an der Oberfläche. Risse,
die die Abgründe in menschlichen Seelen sichtbar machen und Brüche, die die festgeschriebene
Grenze zwischen Mensch und Tier zu Fall bringen könnten. Drei Beispiele schienen mir dafür
besonders interessant aus den verschiedenen literarischen Genres über verschiedene Tierarten,
drei ganz verschiedene Gegebenheiten. Der Traum vom Schlachtkalb ist dabei nur einer von mehreren
Fällen, in denen Gotthelf den Ich-Erzähler die Rolle des Tiers einnehmen lässt. Die Beschreibung
der Schlachtszene mit der inneren Anteilnahme und der äußeren Drastik steht in ihrer Plastidität
modernen Aufnahmen aus dem Schlachtbetrieb nichts nach, gesehen aus der Sicht des gequälten
Tieres, das seinen physischen Schmerzen und seiner Angst in menschlicher Sprache Ausdruck
verleiht und Anklage erhielt. Fühle an deinem Leib, was du an anderen gesündigt. Und das
in biblischer Sprache. Die Schrift an der Wand, die in der alttestamentlichen Erzählung von
Belsazar als Mene Thekel erscheint und ihm wegen seines Ungehorsams gegenüber Gott den Tod
ankündigt, kritisiert hier nicht den Abfall von Yachveh, sondern gedankenlosen Fleischkonsum.
Die Anrede an jemand, der als fauler und unnützer Knecht bezeichnet wird,
und jetzt noch mal diese ganz berühmte Szene mit der Schrift an der Wand, die in der Kunstgeschichte
Presenters
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:44:58 Min
Aufnahmedatum
2017-01-30
Hochgeladen am
2017-01-30 14:11:27
Sprache
de-DE
Eine der Grundannahmen der Human-Animal Studies ist der Gedanke, dass sich die Konzeptionen des Menschen und des Tiers wechselseitig bedingen. Prominent wurde das bereits von T.W. Adorno in seinem Philosophischen Fragment „Mensch und Tier“ aus den 1940er Jahren oder in letzter Zeit von Giorgio Agamben in Das Offene. Der Mensch und das Tier (2002) beschrieben. Selbst die Naturwissenschaften bestätigen dies mittlerweile: Neuere Domestikationstheorien gehen beispielsweise von einer Ko-Evolution von Hunden und Menschen aus. Beide Spezies sind nur in ihrer Abhängigkeit voneinander bzw. mittels einer relationalen Historiographie zu verstehen.
Aber auch die in den 1990er Jahren von Bruno Latour entwickelte Akteur-Netzwerk-Theorie, die von jeder Gesellschaft als grundsätzlich relationalem Netzwerk ausgeht, hat sich als einflussreich für die Human-Animal Studies erwiesen. Menschliche und nicht-menschliche Tiere befinden sich permanent in Relation zueinander und definieren sich gegenseitig als das jeweils andere. Wird diese Beziehung nicht nur abstrakt als Verhältnis formuliert, sondern in seinen konkreten kulturellen und sozialen Manifestationen und Praktiken analysiert, ist der Begriff der Begegnung, des ‚encounters‘, zentral. In der Welt der Moderne, in der wie John Berger schreibt, ‚reale‘ Tiere zunehmend verschwinden, ist die Begegnung mit dem nicht-menschlichen Anderen keine Selbstverständlichkeit. Eine ‚Begegnung‘ im emphatischen Sinne erfordert u.a. eine Offenheit für das Gegenüber, eine besondere Gestimmtheit (Heidegger) sowie die Fähigkeit des Antwortens (Derrida). So hat Lori Gruen kürzlich mit Entangled Empathy eine alternative Ethik für die Mensch-Tier-Beziehung vorgelegt, die die Bedürfnisse von individuellen Tieren und ihr Verwobensein mit den Leben der Menschen stärker in den Blick nimmt.