5 - Der Boom von Wahrsagung in China: ein neues Modul für chinesische Identität? [ID:905]
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Spektabilis, sehr verehrte Frau De Kahnin, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren.

In einem Artikel der Kaderzeitschrift Organisierte Propaganda aus China vom Dezember 2009 betitelt

Wie kann eine Zeitung über unheilträchtige Wohnsitze Nachrichten verbreiten,

lesen wir eine Philippica gegen das New Business Journal Xinjiang Bao,

das junge Ehepaare vor dem Beziehen von Wohnungen mit unheilträchtigem Charakter warnt.

Anstatt Wissenschaft zu verbreiten, den Aberglauben zu bekämpfen,

den Materialismus als Weltanschauung zu fördern,

werde hier dem Aberglauben von Individuen Vorschub geleistet.

Regelmäßig werden Parteisekretäre öffentlich dafür getadelt,

bisweilen werden sie sogar verhaftet, weil sie sich dabei ertappen ließen,

einen Spezialisten einer der traditionellen Wahrsagekünste konsultiert zu haben.

Besonders parteinahe Zeitschriften, also die für die richtigen harten Genossen,

wie zum Beispiel das Organ Wissenschaft und Atheismus,

sind in jeder Ausgabe bemüht, eine sogenannte abergläubische Praxis,

in den meisten Fällen mit Wahrsagung verbunden, zu entlarven.

Auf der anderen Seite ist im Bereich der sogenannten Volkskultur

der Anteil an Publikationen über Divination, also Wahr- und Weisssagung im weitesten Sinne,

in den letzten fünf Jahren von 10% auf circa 80% angestiegen.

Nun über die komplexe Lage eines Staates, der als seine offizielle Religion den Atheismus verkündet

und der sich gleichzeitig mit einem dramatischen Anwachsen des Interesses für manche Praktiken konfrontiert sieht,

will ich Ihnen im Folgenden einige vorläufige Eindrücke vermitteln.

Es ist ein Work in Progress und manches ist vielleicht mit der heißen Nadel gestrickt,

aber ich hoffe, dass ich Sie wenigstens mit ein paar Bildern unterhalten kann.

Nun zunächst einmal zum Hintergrund, warum ist das sozusagen so tief verwurzelt?

Mantische Praktiken können in der chinesischen Zivilisation auf eine lange Geschichte zurückblicken.

Die ältesten Zeugnisse der chinesischen Schrift, die wir derzeit besitzen,

sind Orakelknochen aus dem 14. Jahrhundert, seit dem 14. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.

Doch die Technik aus eigens präparierten Schildkrötenpanzern und Schulterknochen von Rindern

– in einem Fall übrigens auch menschlichen Schädeln –

Wahrsagungen zu gewinnen, lässt sich für den Raum dessen, was heute Nordwest China ist,

schon für das dritte Jahrtausend nachweisen.

Allerdings auch wenn auf diesen Panzern keine schriftlichen Zeugnisse vorliegen.

Das Buch der Wandlungen, dessen älteste Teile aus dem Beginn des ersten Jahrtausends

vor unserer Zeitrechnung stammen, ist im Grunde ein Orakelbuch,

das einzelne historische Ereignisse, Aussagen über Herrscher und Untertanen,

über Familie, Bauernweisheiten und anderes Material zu einem Konglomerat von 64 Zeichen verbindet,

die gewissermaßen archätypischen Charakter annehmen.

Dieses Werk wurde in der Folge mit kosmologischen Deutungen angereichert, die immer komplexer werden.

Wichtiger noch, es wird zu einem der kanonischen fünf Bücher des Konfuzianismus,

sodass, und darauf ist wertzulegen, kein gebildeter bis zum frühen 20. Jahrhundert,

also bis zur Abschaffung der Staatsprüfungen, umhin kommt, Kenntnis des Buches der Wandlungen zu erlangen.

Ich sage das öfter sehr kollokial, stellen sich vor, die Bibel enthielte ein Kapitel,

nicht etwa die Apokalypse, sondern ein Kapitel, in dem ausführliche Hinweise

zur Orakeltechnik gegeben worden wären, dann hätte unsere Zivilisation eventuell auch gewisse andere Nuancen angenommen.

Im Laufe der Jahrhunderte wurden in der chinesischen Zivilisation eine Reihe weiterer Techniken zur Zukunftsvorhersage entwickelt.

Jüngste Ausgrabungen, das ist keine jüngste Ausgrabung, das habe ich nicht mehr geschafft aufzunehmen,

haben hemerologische Texte, also in etwa Almanache, zur Bestimmung von günstigen und ungünstigen Tagen

und Perioden zutage gefördert, 5. des 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung,

die auch Material zur Traumdeutung und anderen mantischen Praktiken enthalten.

Physiognomik, im Wesentlichen die Deutung von Gesicht und Handlinien, erreicht bereits im ersten Jahrhundert eine reife Ausprägung.

Teil einer Videoserie :

Zugänglich über

Offener Zugang

Dauer

00:47:00 Min

Aufnahmedatum

2010-07-21

Hochgeladen am

2020-03-20 09:55:47

Sprache

de-DE

Tags

China Wahrsagung
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