Nach Art. 20 Grundgesetz ist die Bundesrepublik Deutschland
ein demokratischer Staat, in dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht.
Stimmt das noch?
Werden wir noch demokratisch regiert?
Oder gilt das Demokratiegebot des Grundgesetzes heute nur noch für
einen kleineren und immer kleiner werdenden Teil hoheitlicher Entscheidungsfindung?
Geht die Hoheitsgewalt in Wahrheit nicht ganz überwiegend von Brüssel aus?
Und fehlt es der von dort regierenden Europäischen Union nicht an demokratischer Legitimation?
Ich will diesen derzeit vor allem im Umfeld der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
diskutierten Fragen in fünf Schritten nachgehen.
Diese fünf Schritte habe ich Ihnen hier aufgezeichnet.
Ich werde mich zunächst mit der Bedeutung der von der Europäischen Union ausgeübten
Regelungsmacht beschäftigen.
Dann beschreibe und würdige ich die Herrschaftsstrukturen der Europäischen Union mit besonderem Blick
auf deren demokratische Qualität.
Vor diesem Hintergrund wende ich mich dann den demokratischen Schwächen des europäischen
Herrschaftssystems zu.
Gegen Ende entwickle ich Ihnen ein paar Reformvorschläge, wie sich diese Schwächen nach Möglichkeit
überwinden lassen könnten.
Eine vorläufige demokratische Bilanz bildet dann den Abschluss meiner Ausführungen.
Über die Bedeutung der europäischen Hoheitsgewalt, meinem ersten Punkt, herrscht in der Öffentlichkeit
immer noch weitgehend Unklarheit.
Wenn man sich als Europarechtler zu erkennen gibt, dann erntet man regelmäßig den anerkennend
gemeinten Satz, dass das ein Rechtsgebiet sei, was auch immer wichtiger werde.
Mit dieser Bemerkung verbindet sich die Beobachtung möglicher künftiger Relevanz mit aktueller
Irrelevanz.
Das wird wichtiger werden, impliziert auch, das ist noch nicht wichtig oder jedenfalls
nicht so wichtig.
Dem entspricht es, wenn auch in Kreisen, die mit EU-Prozessen mehr oder weniger gründlich
vertraut sind, doch, also in einer gesellschaftlichen Elite kann man sagen, wenn dort relativ ungenaue
Vorstellungen darüber herrschen, wie die Entscheidungsprozesse in Brüssel eigentlich aussehen und welche
quantitativen und qualitativen Bedeutung diesen Entscheidungsprozessen eigentlich zukommt.
Tatsächlich sind heute etwa 80 % des neu entstehenden Rechts, das in der Bundesrepublik Deutschland
Geltung beansprucht, mehr oder weniger, eher mehr als weniger, vollständig vom EG-Recht
beeinflusst.
Diese 80 %-Zahl geht zurück auf ein Wort von Jacques Delors, einem ehemaligen Kommissionspräsidenten,
der die entsprechende Vermutung schon in den Neunzigerjahren geäußert hatte, das damals
aber noch beschränkte auf den Bereich des Wirtschaftsrechts.
Im Umfeld der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat jetzt der Wissenschaftliche Dienst des
Bundestages einmal versucht zu ermitteln, wie hoch der Prozentsatz denn tatsächlich ist
und der Wissenschaftliche Dienst unterstützt die These von Jacques Delors und unterstreicht
sie noch, und zwar ganz dick unterstreicht er sie, indem er zu dem Ergebnis kommt, dass
heute tatsächlich 80 % des in der Bundesrepublik Deutschland neu entstehenden Rechts auf Europarecht
zurückgehen und zwar nicht nur des Wirtschaftsrechts im engeren Sinne, sondern des gesamten Rechts,
das überhaupt neu in Deutschland entsteht.
Vier Fünftel des neu entstehenden Rechts werden demnach in Brüssel und nicht etwa in Berlin
oder in München gemacht.
Selbst wenn man die Zahl 80 %, die mir persönlich etwas zu hoch gegriffen erscheint, aber ich
habe auch keine besseren Informationen als der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages,
selbst wenn man diese Zahl also noch relativieren könnte, bleibt es doch dabei, die überwiegende
Presenters
Prof. Dr. Bernhard Wegener
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:37:08 Min
Aufnahmedatum
2009-10-29
Hochgeladen am
2018-05-06 12:07:39
Sprache
de-DE
Nach Art. 20 GG ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer Staat, in dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Stimmt das noch? Werden wir noch demokratisch regiert? Oder gilt das Demokratiegebot des GG heute nur noch für einen kleineren und immer kleiner werdenden Teil hoheitlicher Entscheidungsfindung? Geht die Hoheitsgewalt in Wahrheit nicht ganz überwiegend von Brüssel aus und fehlt es der von dort regierenden Europäischen Union nicht an demokratischer Legitimation? Der Vortrag geht diesen derzeit vor allem im Umfeld der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum EU-Reformvertrag von Lissabon diskutierten Fragen nach. Er unterstreicht die Bedeutung der von der EU ausgeübten Regelungsmacht, analysiert die Herrschaftsstrukturen der Union mit besonderem Blick auf deren demokratische Qualität und setzt sich mit den demokratischen Schwächen der Union auseinander. Reformvorschläge und eine vorläufige demokratische Bilanz runden das Bild ab.