Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht für alle Anwesenden wird es auf Anhieb einsichtig und logisch sein,
was eine in der öffentlichen Meinung oftmals als sogenanntes Orchideenfach eingestufte
oder gar mitleidig belächelte universitäre Disziplin wie die vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft
zum Rahmenthema Sehen und Welterfahrung beitragen kann, dass in Erlangen in diesem Wintersemester
nicht nur für eine Vortragsreihe, sondern bald auch für eine Ausstellung gewählt worden ist.
Doch was auf den ersten, zugegebenermaßen flüchtigen Blick als kaum nachvollziehbar erscheint,
erweist sich jedoch bei näherer und eingehender Überlegung als durchaus wohl begründet.
Um diesen angesprochenen Sachkomplex freilich in den ihm gebührenden fachlichen Kontext rücken zu können,
dürfte es sich als hilfreich erweisen, zunächst das wissenschaftliche Arbeitsgebiet
der vergleichenden indogermanischen Sprachwissenschaft in den folgenden Ausführungen,
kurz indogamanistik genannt, kurz zu skizzieren.
Die Indogamanistik beschäftigt sich vorrangig damit, den genetischen Zusammenhang der sogenannten indogamanischen Sprachen zu klären.
Aus dieser knappen Definition lassen sich nun dreierlei unterschiedliche, jedoch inhaltlich miteinander verknüpfte Feststellungen treffen.
Erstens, die Indogamanistik stellt ein primär sprachwissenschaftlich ausgerichtetes, universitäres Lehrfach dar.
Sie ist damit weniger auf die wissenschaftliche Interpretation materieller Hinterlassenschaften,
die durch Ausgrabungen ans Tageslicht gekommen sind oder auf literaturtheoretische Fragestellungen ausgerichtet.
Zweitens, den Forschungsgegenstand der Indogamanistik bilden die indogamanischen Sprachen.
Darunter versteht man nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand hauptsächlich zehn Sprachzweige,
die, wie das Adjektiv indogermanisch zum Ausdruck bringt, vor dem Beginn der Neuzeit
auf einer von Ost nach Westen verlaufenden Achse vom indischen Subkontinent über den Iran und über Anatolien bis nach Island in Europa verteilt gewesen sind.
Auf der folgenden Folie sehen Sie also hier einen Überblick über diese Sprachen.
Mit den Farben sind die unterschiedlichen Bezeugungsstadien markiert,
nämlich Sprachen, die schon mit ihrer Überlieferung vor Christi Geburt einsetzen, ausgestorben sind oder auch bis in die Neuzeit weitergelebt haben.
Zu diesen Sprachzweigen zählen etwa das Germanische, dem unter anderem nicht nur das heutige Deutsche,
sondern auch das Englische oder das Niederländische angehören oder das Baldoslawische,
zu dessen Vertretern zum Beispiel das Russische, das Polnische, das Kroatische, aber auch das Lettische oder das Litauische zählen.
Drittens, diese indogermanischen Sprachen sind alle miteinander genetisch verwandt.
Konkret heißt das, sämtliche indogermanischen Sprachen gehen auf eine einzige gemeinsame Ausgangssprache zurück,
von der sie sich im Laufe der Zeit abgespalten haben.
Diese nicht durch schriftliche Quellen bezeugte, sondern allein auf dem Weg der linguistischen Rekonstruktion erschlossene Basissprache
wird im deutschsprachigen Raum gewöhnlich als urindogermanisch, im englischsprachigen Raum dagegen meist als Proto-Indo-European, abgekürzt PIE, bezeichnet.
Diese Grundsprache existierte nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand wohl im ausgehenden 4. vorchristlichen Jahrtausend,
irgendwo in den weiten Osteuropas dieseits des Orals.
Genauere Angaben hinsichtlich der zeitlichen und räumlichen Fixierung sind freilich mangels klarer archäologischer Zeugnisse nicht möglich.
Sämtliche Befunde, die man nun dem Urindogermanischen zuschreibt, sind aus den späteren Fortsetzersprachen mittels der Rekonstruktion gewonnen.
Da sich die Indogermanistik auch mit der Geschichte, der Struktur und den Texten der indogermanischen Einzelsprachen oder Sprachgruppen beschäftigt,
können aus diesem Material Rückschlüsse auf die all diesen Repräsentanten zugrunde liegenden Quellen gezogen werden.
Denn aufgrund der Prämisse, dass ein linguistisches Phänomen, sofern es sich in mindestens zwei voneinander unabhängigen indogermanischen Fortsetzersprachen bezeugt findet,
ein unsprachliches Alter beanspruchen darf, ist es möglich, stichhaltige Aussagen über die Beschaffenheit des Urindogermanischen zu tätigen.
Dies trifft in erster Linie im Bereich des Lautsystems, der Nominal- oder Verbalflexion wie auch der Syntax und damit in fast allen zentralen Bereichen des grammatischen Systems zu.
Innerhalb dieses knapp umrissenen Forschungsrahmens kommt nun den jeweils ältesten schriftlich bezeugten Phasen indogermanischer Einzelsprachen besondere Bedeutung zu,
weil diese frühen Entwicklungsstadien infolge der allgemeingültigen Tatsache, dass sich jede gesprochene Sprache auf der Welt während ihrer Existenz verändert, den basisprachlichen Erbanteil noch unverfälschter bewahrt hat als die späteren Stufen,
in denen zumeist ein weitaus umfangreicheres Maß an Neuerungen greifbar wird.
Dieser Sachverhalt gewinnt noch an Bedeutung, sofern die schriftliche Bezeugung vor der Zeitenwende einsetzt, wie es etwa für das Indo-Iranische, das Anatolische oder das Italische zutrifft.
Bei seiner wissenschaftlichen Arbeit an den archaischen Stufen der sogenannten altindogamanischen Sprachen muss sich ein Indogamanist, also geradezu zwangsläufig, mit verschiedenen voralfabetischen Schriften und Schriftsystemen auseinandersetzen.
Er dringt nämlich bei seiner Forschungstätigkeit weit in die Vergangenheit bis in eine Zeit vor, die durch den für die Geschichte und Entwicklung der Menschheit so bedeutsamen Schritt der Visualisierung von Sprache mittels bestimmter, von einer bestimmten Sprechergruppe festgelegter Zeichen, die man als Schrift zu bezeichnen pflegt, charakterisiert ist.
Der entscheidende Vorzug, der durch die Möglichkeit schriftlicher Aufzeichnungen gegeben ist, liegt darin, dass nicht nur der Vergänglichkeit des gesprochenen Wortes ein Ende bereitet, sondern auch die Grundlage für das sogenannte kulturelle Gedächtnis der Menschheit geschaffen worden ist.
Durch diese knappen Andeutungen soll vor Augen geführt werden, weshalb auch dieser Vortrag unter dem Leitthema Sehen und Welterfahrung steht.
Die Erfindung von Schriftsystemen erfolgte im Bereich des vorderen Orients bei den Ägyptern und Sumerern vor annähernd etwa 5000 Jahren. Damit erweist sich freilich die Zeitspanne der Schriftlichkeit innerhalb der Geschichte der denkenden Menschheit als äußerst klein, wenn man davon ausgeht, dass das Alter des Homo erectus ergaster, also des Werkzeuge herstellenden Menschen,
Presenters
Prof. Dr. Robert Plath
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
01:11:23 Min
Aufnahmedatum
2015-12-17
Hochgeladen am
2015-12-22 08:55:55
Sprache
de-DE
Der Vortrag behandelt an drei ausgewählten Fallbeispielen aus indogermanischen Sprachen, wie dort frühe Schriftsysteme erst decodiert werden mussten, bevor die ältesten Texte dieser Sprachen verstanden werden konnten. Dabei handelt es sich um das Altpersische, das Hethitische und das spätbronzezeitliche Griechisch. Nach einem Überblick über die methodischen Voraussetzungen werden dann die individuellen Arbeitsweisen der betreffenden Forscher, denen der Durchbruch bei der Entzifferung jeweils gelang, kurz vorgestellt und erläutert. Spezielle Vorkenntnisse werden nicht vorausgesetzt.