Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Christian Seidel ist akademischer Rat am Institut für Philosophie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Er befasst sich mit grundlegenden Fragen der praktischen Philosophie. Dabei ist ihm das Thema der Klimagerechtigkeit besonders wichtig.
Das Thema heute ist Gerechtigkeit und Gerechtigkeit, meine Damen und Herren, ist ohne Zweifel eine ziemlich große und wirkmächtige Idee.
Es ist zugleich eine sehr schillernde Idee, eine heftig umkämpfte Idee.
Denken Sie nur an den Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn oder an die Diskussion um die Rentenreform.
Was für den einen der Inbegriff der Gerechtigkeit ist, ist für die andere gerade das Gegenteil, nämlich eine himmelsschreiende Ungerechtigkeit.
Kein Wunder also könnte man meinen, dass Ethikerinnen und Ethiker schon so lange, seit Jahrhunderten, Jahrtausenden über Gerechtigkeit nachdenken und ein Ende eigentlich nicht so richtig in Sicht ist.
Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Idee der Gerechtigkeit sogar noch schillernder und das Nachdenken darüber entsprechend sogar noch schwieriger wird,
wenn man diese Idee der Gerechtigkeit in einem ganz bestimmten angewandten Kontext betrachtet, nämlich dem Kontext des Klimawandels.
Wenn man also fragt, worin besteht Gerechtigkeit im Kontext des Klimawandels eigentlich?
Dazu werde ich in einem ersten Schritt zunächst erklären, was der Klimawandel überhaupt mit Gerechtigkeit zu tun hat.
Also erklären, warum und in welcher Hinsicht der Klimawandel, auch wenn nicht sogar in erster Linie, ein moralisches Problem ist.
Ein Problem, das eine Reihe von Gerechtigkeitsfragen aufwirft.
In einem zweiten Schritt werde ich dann etwas genauer darauf eingehen, welche verschiedenartigen Gerechtigkeitsfragen sich im Einzelnen stellen.
Das Nachdenken über gute und weniger gute Antworten auf diese Gerechtigkeitsfragen ist das Kerngeschäft eines bestimmten Teilbereichs, eines noch sehr jungen Teilbereichs der angewandten Ethik.
Dieser Teilbereich nennt sich natürlich Klimaethik.
In einem dritten Schritt möchte ich Ihnen dann zeigen, dass dieses ethische Nachdenken über Gerechtigkeit im Kontext des Klimawandels uns an die Grenzen unserer etablierten moralischen Begriffe führt.
In diesem Sinne ist der Klimawandel dann nicht nur eine große Herausforderung für Gesellschaft und für die Politik und für die Wirtschaft.
Nein, der Klimawandel ist dann auch eine große Herausforderung für die Ethik, ethische Theorie, für die angewandte Ethik und die ethische Theorie Bildung selbst.
Wie ich zum Schluss in einem Ausblick andeuten möchte, zeigt sich im spezifischen Kontext des Klimawandels eine viel allgemeinere Problemkonstellation,
die sich auch in anderen Fragen einer globalisierten, vernetzten Welt ganz neuartige moralische Verstrickungen erzeugen.
Verstrickungen, die dann unser moralisches Gespür auf den Kopf stellen und solche Zeiten des Aufruhrs erzeugen und der Veränderung erzeugen,
die dann immer auch Zeiten des Aufruhrs und der Veränderung in der Ethik sind.
Und das sind dann Zeiten, die nach einer neuen Ethik rufen und auch nach einem neuen ethischen Bewusstsein eben nach einer Ethik 2.0.
Doch beginnen wir ganz vorne beim Klimawandel.
Vom Klimawandel haben Sie sicher bereits einmal gehört.
Unser Planet ist nämlich von einer Atmosphäre umgeben, die wie eine Isolationsschicht wirkt.
Das bedeutet, die Atmosphäre lässt die Strahlung der Sonne hinein, aber nicht in gleicher Weise wieder hinaus, sodass es auf der Erde warm bleibt.
Das ist der sogenannte Treibhauseffekt, der eben in einem normalen Ausmaß das bisher bekannte Temperatureniveau und das bisher bekannte Klima uns ermöglicht.
Die Stärke dieses Treibhauseffektes hängt allerdings von der Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre ab.
Treibhausgase sind sowas wie CO2 oder Methan.
Wenn diese Konzentration von solchen Treibhausgasen in der Atmosphäre ansteigt, dann wird weniger Strahlung von der Erde in den Weltraum abgegeben und folglich bleibt es auf der Erde wie in einem Treibhaus wärmer.
Das heißt, die mittlere globale Temperatur steigt und in der Folge verändern sich Niederschlagsmuster, Meeresströmungen, Meeresspiegel und Wetterextreme.
Was hat das jetzt mit Gerechtigkeit zu tun? Ziemlich viel.
Denn die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre steigt seit geraumer Zeit massiv an.
Und zwar vor allem durch unser menschliches Zutun.
Nämlich durch ganz viele alltägliche Handlungen, bei denen wir Treibhausgase emittieren.
Etwa wenn wir mit dem Auto zum Supermarkt fahren, in den Urlaub fliegen, wenn wir unsere Räume im Winter heizen und im Sommer kühlen oder wenn wir Fleisch und Milchprodukte verzehren, bei deren Herstellung viele Treibhausgasemissionen anfallen.
Der Klimawandel kommt also letztlich durch eine Vielzahl von kleineren Handlungen zustande, die auf den ersten Blick doch ganz harmlos und unschuldig scheinen.
Doch ganz so harmlos und unschuldig sind diese Handlungen nicht.
Denn die Erhöhung der globalen Temperatur hat ziemlich schwerwiegende Auswirkungen auf zukünftige Menschen.
Sie verschlechtert in vielen Regionen der Erde die Versorgung mit Trinkwasser und mit Wasser für die Landwirtschaft.
Extremwetterereignisse nehmen zu in Intensität und Häufigkeit, und solche Wetterextreme machen Menschen dann obdachlos und besitzlos und vergrößern Hungersnöte, weil die Ernteerträge sinken.
Alte und schwache Menschen werden unter häufigeren Hitzewellen leiden und daran sterben.
Kurzum, die scheinbar harmlosen und unschuldigen Handlungen führen dann in der Summe, dass die Ernteerträge, die sich in der Ernte erzielen,
zu ziemlich schweren moralischen Übeln führen, und zwar für zukünftige Menschen, zu Not, Hunger, Leid und Tod.
Und wenn Handlungen, die ganz überwiegend dem Komfort und dem Wohlbefinden der einen dienen, dann aber zu schweren moralischen Übeln für andere führen,
dann kann man das mit Fug und Recht eine himmelsschreiende Ungerechtigkeit nennen.
Bei genauerer Betrachtung gibt es gleich eine zweifache Ungerechtigkeit.
Presenters
Dr. Christian Seidel
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:50:35 Min
Aufnahmedatum
2014-11-26
Hochgeladen am
2015-10-01 10:16:30
Sprache
de-DE
Der Klimawandel wirft nicht nur ökonomische oder politische, sondern auch weitreichende moralische Fragen auf: Fragen der Gerechtigkeit. Dieser Vortrag beleuchtet diese Fragen und zeigt, wie das Nachdenken über Gerechtigkeit im Kontext des Klimawandels uns an die Grenzen unserer etablierten moralischen Begriffe (wie "Schaden", "Verantwortung" oder "Fairness") führt und unser moralisches Gespür auf den Kopf stellt. Aufgabe einer "Ethik 2.0" ist es, zentrale moralische Begriffe neu zu überdenken und zu schärfen -- und unser moralisches Gespür entsprechend zu verfeinern.