Professor Bielfeldt, herzlichen Dank für die Einladung. Ich hoffe, sie hören mich alle. Vielen
Dank für Ihr Kommen heute. Wir haben unglaubliches Wetter und auch noch Fußball. Da freue ich mich
besonders, dass Sie heute Lust hatten zu kommen. Ich erzähle ein wenig aus der Museumspraxis. Die
Arrisierung des Gedächtnisses ist ein Thema, das eine Anlass war, eine Ausstellung in Schneidach zu
öffnen im April dieses Jahres. Ich beginne mit einem Zitat von Hanna Arendt. In Süddeutschland
erzählte mir eine Frau, die Russen hätten mit einem Angriff auf Danzig den Krieg begonnen. Das
ist nur das Größte von vielen Beispielen, doch die Verwandlung von Tatsachen und Meinungen ist nicht
allein auf die Kriegsfrage beschränkt. Auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, dass jeder das
Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentleman's Agreement, dem zufolge jeder das Recht
auf Unwissenheit besitzt. Und dahinter verbirgt sich die stillschweigende Annahme, dass es auf
Tatsachen nun wirklich nicht ankommt. Dieses Zitat stammt aus dem Essay Die Nachwirkungen des
Naziregimes Bericht aus Deutschland von Hanna Arendt. Es erschien 1949 50 in englischer Sprache im
Commentary einer US-amerikanischen Monatszeitschrift des American Jewish Committee. Arendts Beschreibung
des Zeitgeists im Jahr 1949 in Deutschland als ein Gentleman's Agreement erscheint heute,
wie auch im Übrigen eine Vielzahl anderer Thesen von Hanna Arendt, die eine Art Wiederbelebung
erfährt, erscheint aktueller denn je. Also in Zeiten der Fake News, in denen geschichtsrevisionistische
Tendenzen erstarken, Meinungen zu Fakten werden und Geschichte lieber gefühlt als historisch-kritisch
aufgearbeitet wird. Bis heute, knapp 80 Jahre nach Kriegsende, verwundert es also nicht, dass Raub,
Restitution und die Vermittlung der Geschichte von im Nationalsozialismus geraubten Kulturguts aus
jüdischen Besitz immer noch umstrittene und kontroverse Themen sind, um die sich viele Mythen
und Legenden ranken können, mit dem Wunsch mittels einer Geschichtsklitterung zu entschulden und dem
Wunsch einen Schlusspunkt zu setzen. Ganz nach dem Impetus, jetzt ist mal gut, darüber haben wir jetzt
genug gesprochen. Die unzähligen, ungeklärten Fälle enteigneten jüdischen Besitzes spiegeln das
Ausmaß, also bis heute das Ausmaß der Entrichtung, Enteignung, Verfolgung und Ermordung der europäischen
Juden im Nationalsozialismus wider. Dabei profitierten im Nationalsozialismus neben
jüdischen Kunsthändlern gerade Museen und Archive von der Enteignung der vertriebenen und ermordeten
jüdischen Bevölkerung. Über die historischen Abläufe, Zusammenhänge, Verantwortlichkeiten und die
Restitution enteigneten jüdischen Kulturguts sind wichtige kulturwissenschaftliche Publikationen und
bedeutende Ausstellungen kuratiert worden. Denn gemäß der Washingtoner Konferenz haben sich die
meisten Museen weltweit seit 1998 dazu verpflichtet enteignete Gegenstände zu identifizieren,
die Provenienz zu klären und gegebenenfalls die Rückerstattung an den rechtmäßigen Eigentümer,
Eigentümerinnen durchzuführen. Doch welche Intention Museen und Archive im Nationalsozialismus
verfolgten enteignete Gegenstände aus jüdischem Besitz nicht nur zu sammeln und zu bewahren,
sondern auch auszustellen und zu vermitteln, hat erst der Historiker Dirk Rupno 2005 mit seiner
Veröffentlichung vernichten und erinnern Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik
untersucht. Er beweist anhand von Sammlungs- und Ausstellungsvorhaben in Frankfurt, Prag, Wien,
Braunschweig und eben auch Schneidach, dass mit der totalen physischen Vernichtung der europäischen
Juden durch die Nationalsozialisten nicht zwangsläufig die sogenannte Entlösung der
Erinnerungen an jüdisches Leben einhergehen sollte, sondern die Arrisierung des Gedächtnisses an
jüdische Geschichte und Kultur. Die nationalsozialistische Deutungshoheit über
das Narrativ jüdischer Geschichte war ein wirksames Mittel, um nach der Vernichtung jüdischen Lebens das
für die nationalsozialistische Ideologie notwendige antisemitische Feindbild am Leben zu erhalten.
Dabei spielte die Musealisierung von Kulturzeugnissen aus jüdischem Eigentum eine Schlüsselrolle.
Nationalsozialismus und Holocaust würden, so Rupno, damit nicht mehr nur als Ausgangspunkt
für die Gedächtnistiskurse der Nachkriegszeit betrachtet, sondern die Funktion von Gedächtnis und
Erinnerung würde im unmittelbaren Zusammenhang mit der Beraubungs- und Vernichtungspolitik untersucht.
Anders gesagt, die Unfähigkeit diesen Zusammenhang herzustellen, zeigt auf, woran wir uns nicht
erinnern möchten. Seit April dieses Jahres präsentiert das Jüdische Museum Franken in Schneidach
die Ausstellung Gentleman's Agreement, der Umgang mit Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute.
Am Beispiel des Heimatmuseums Schneidach, das 1938-39 in die arisierte Synagoge samt Arabiner- und
Presenters
Daniela Eisenstein
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:40:17 Min
Aufnahmedatum
2024-06-18
Hochgeladen am
2024-06-27 12:36:04
Sprache
de-DE