Den Schmerz während der Operation zu vermeiden, ist eine Chimäre, die zu verfolgen heute nicht
mehr erlaubt ist.
Schneidende Instrumente und Schmerz sind zwei Worte, welche sich niemals das eine ohne
das andere dem Geist des Kranken zeigen. So lautet die Übersetzung des Zitats des
großen französischen Chirurgen Valpeau, dass er wie ein ehrenes Dogma im Jahre 1839
in den Raum setzte. Und damit begrüße ich Sie, meine Damen und Herren, von meiner Seite.
Und füge hinzu, sage niemals nie, denn nur sieben Jahre später war es der medizinischen
Wissenschaft gelungen, Valpeau zu widerlegen. Der amerikanische Arzt William T.G. Moten
führte die erste öffentliche Demonstration einer Äthernarkose im später so genannten
Isordogen an, der Harvard-Universität zu Boston durch. Dies war der Big Bang, die Geburtsstunde
der Anästhesiologie. So wurde nämlich die Lehre und Wissenschaft von der Narkose später
genannt. Was war denn das Sensationelle an dieser Sensation? Nun, zum ersten Mal wurde
das Dogma von Valpeau widerlegt und eine chirurgische Operation ohne Schmerz durchgeführt. Ist das
tatsächlich so? Was die Augenzeugen der damaligen Ereignisse kolportierten, war, dass sie keine
manifesten Schmerzäußerungen, wie zum Beispiel Abwehrbewegungen oder Weinen oder Schreien,
verzeichnen konnten. Bedeutet aber das Fehlen von Schmerzäußerungen auch das Fehlen von
Schmerz selbst? Oder ist diese Frage vielleicht lediglich die Haarspalterei einer wissenschaftlichen
Krämer-Säle? Der vermeintlich gesunde Menschenverstand sagt, was aussieht wie ein Hund, bellt wie
ein Hund, wird wohl auch ein Hund sein. Können wir davon ausgehen, dass wenn ein Patient
nicht über Schmerzen klagt, er sich nicht wehrt und schreit während einer Operation,
der Patient auch keine Schmerzen hat? Was ist eigentlich Schmerz? Und wie versucht die
Anästhesiologie, ihn zu bekämpfen? Nun, die internationale scientific community, genauer
gesagt die International Association for the Study of Pain, hat Schmerz definiert als eine
unangenehme sensorische und emotionale Empfindung in Verbindung mit einer aktuellen oder potenziellen
Gewebsläsion oder beschrieben im Zusammenhang mit einer solchen Läsion. Oder etwas verkürzt,
vereinfacht ausgedrückt, Schmerz ist die bewusste Wahrnehmung eines schmerzhaften Reizes. Schmerz
wird hier in der Definition gleichgesetzt mit Schmerzempfindung. Schmerz setzt Bewusstsein
voraus. Ja, es ist so, dass wir nicht Schmerzen im Bein oder im Fuß haben, sondern schon, wie der
französische Philosoph und Mathematiker Descartes erkannt hatte, vom Ort der Entstehung, hier der
Fuß, wird der Schmerzreiz über das dichte Nervenzellgeflecht des Rückenmarks zum Gehirn
geleitet. Und was wir heute wissen, im Gehirn entsteht aus dem Schmerzreiz der Schmerz. Schmerz ist eine
höchst komplexe, integrative, funktionelle Leistung des Gehirns. Wir haben nicht Schmerz im Fuß, sondern
im Fuß entsteht der Schmerzreiz und unser Gehirn projiziert dann den Schmerz wieder zurück in den
Fuß, sodass wir meinen, ihn dort wahrzunehmen. Vom Schmerz, dem bewussten Empfinden eines
Schmerzreizes zu unterscheiden, sind die nicht an das Bewusstsein gekoppelten verschiedensten Reaktionen
des Körpers auf den Schmerzreiz, die man in ihrer Gesamtheit Nozizeption nennt, beziehungsweise ihre
Unterdrückung, Anti-Nozizeption. Nozizeption ist also der vom expliziten Bewusstsein unabhängige
Teil des Schmerzgeschehens. Während in vielen Bereichen der Medizin man versucht, den Schmerz
dadurch zu verhindern, zu bekämpfen, zu lindern, indem man den schmerzreizauslösenden Prozess,
zum Beispiel die Entzündung heilt, ist diese Möglichkeit bei der Narkose natürlich nicht
gegeben, weil der Chirurg eben schneidet. Nicht notwendigerweise der Schmerz selbst,
aber eben der Schmerzreiz, das Schneiden, inherent zum Heilprozess gehört. Wenn die
Anästhesiologie zwar nicht den Schmerzreiz verhindern kann, welche Möglichkeiten hat sie denn
den Schmerz zu verhindern oder ihn zumindest zu dämpfen? Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten.
Wir können die Schmerzreizweiterleitung an verschiedenen Stellen des Körpers unterbrechen,
sodass der Schmerzreiz erst gar nicht zum Ort der Schmerzentstehung kommt, zum Beispiel durch
sogenannte Lokalanästhetika oder auch durch Opiate. Oder aber wir verhindern die Schmerzentstehung,
das heißt das Entstehen der Schmerzempfindung, zum Beispiel durch die Erzeugung von Bewusstlosigkeit,
durch Schlafmittel, sogenannte Hypnotika, wie zum Beispiel Barbithorate oder Benzodiazepine.
Damit bin ich bei den beiden entscheidenden Fragen, die den Rest meines Vortrags bestimmen,
Presenters
Prof. Dr. Helmut Schwilden
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:30:04 Min
Aufnahmedatum
2002-11-28
Hochgeladen am
2017-07-04 15:13:42
Sprache
de-DE