Liebe Studierenden, zum fast schon Ende der Vorlesungsreihe möchte ich den Modus jetzt
etwas ändern. Bislang hatte ich Ihnen ja abgesehen von der einleitenden Vorlesung immer
bestimmte Positionen vorgestellt. Kant, auch in Anknüpfung noch an das letzte Semester,
Fichte, Hegel, Marx, Herder, nicht zu vergessen. Ursprünglich hatte ich gedacht, jetzt noch weitere
Positionen vorzustellen, das war auch mal so angekündigt worden. Ich hatte dann irgendwann
den Eindruck, das wird zu viel und jetzt mache ich stattdessen etwas anderes, hoffentlich in Ihrem
Interesse. Ich werde fast gar keinen neuen Namen und neuen Positionen vorstellen, sondern das
bisherige unter einer sehr kritischen Perspektive noch einmal resümieren und da auch durchaus
Erweiterungen einbringen. Diese kritische Perspektive heißt Eurozentrismus. Wir sind ja
immer wieder auf Beispiele von Eurozentrismus gestoßen, ab und zu allerdings auch auf Beispiele
für eine Kritik am Eurozentrismus. Die Eckpunkte wären hier Hegel und Herder. Hegel, das haben wir
gesehen, ist offen, explizit, Eurozentrisch. Die ganze Weltgeschichte läuft auf Europa hin.
Und der Herder, eine ganze Generation vorher schon, eine Kritik an solcher Eurozentrik,
die es auch in der Aufklärungsgeneration, also in den Zeitgenossen Herders oder davor schon gegeben
hat, also eine Kritik an Eurozentrismus zugunsten eines historischen, eines kulturellen Pluralismus,
der keine Hierarchisierungen vornehmen soll. Ich werde also jetzt nicht nur diese beiden
Eckpunkte noch mal Revue passieren lassen, sondern von dieser kritischen Perspektive her,
Eurozentrismus, jetzt das gesamte Thema noch mal im Draufblick durchrollen. Also es ist nicht nur
ein Summary dieser schon genannten Aspekte, da kommen auch noch ein paar neue dazu. Jetzt einsteigen
will ich mit Kant. Und bei Kant erlebt man eine merkwürdige Ambivalenz in diesen Fragen. Einerseits
scharfe Kritik am europäischen Kolonialismus und zwar in zentralen Werken ganz. Sehr dezidierte Kritik.
Andererseits krasse Vorurteile, Eurozentrismus, sogar Rassismus, wenn auch muss man sagen,
nicht so sehr an zentraler Stelle, sondern an etwas entlegeneren Stellen des Werkes von Kant.
Wie man das zusammenbringen soll, keine Ahnung. Also zunächst mal,
Kants Kritik am europäischen Kolonialismus, die fällt ausgesprochen scharf aus. Man findet
sie in gewichtigen Werken, also etwa in der Metaphysik der Sitten. Das ist ein Spätwerk von ihm,
da war er schon fast Mitte 70. Und noch die etwas populäre Friedenschrift,
Zum ewigen Frieden, auch eine seiner späten Schriften. Das ist der alte Kant. Und in diesen
Schriften entwickelte er unter anderem die Figur eines Weltbürgerrechts. Darauf war ich in der
Vergangenheit auch ein paar Mal zu sprechen gekommen, aber nur relativ knapp, weil es nicht
ansonsten wirkliches Thema war. Also use cosmopolitikum, Weltbürgerrecht, das ist ein
neuer Begriff. Kant hält es für unumgänglich oder sagen wir mal für moralisch geboten,
nicht für historisch notwendig, für moralisch geboten, dass die Anstrengungen sich auf die
Schaffung einer weltbürgerrechtlichen Rahmenordnung richten. Warum? Also zunächst ist leitend eine
Idee, nämlich dass der Besitz an der Erdoberfläche eigentlich der gesamten Menschheit zukommt. Alle
besonderen Besitzverhältnisse sind dem gegenüber sekundär. Ursprünglich hat die Menschheit als
ganze einen Besitz an der Erdoberfläche. Okay, jetzt hat sich das historisch so in besondere
Besitztümer entwickelt, aber die können dieses ursprüngliche Recht aller auf diesen Gemeinbesitz
nicht völlig wegfegen. Deshalb haben alle Menschen das Recht überall hinzureißen. Also man kann das
eigene Land verlassen, man kann in andere Länder einreisen, man kann um Kontakt suchen, man kann
Handel betreiben. Also die Welt soll offen sein, also offen sein für internationalen Verkehr, ob das
akademischer Verkehr ist oder ökonomischer Verkehr, was auch immer. Jetzt dieses Recht auf Bewegung,
auf Handel, auf Kontakt-Suche ist allerdings, und das ist die Pointe, nicht gleichzusetzen mit einem
Recht, sich irgendwo einfach anzusiedeln und dabei die eigene politische ökonomische Übermacht
gar auszuspielen gegen die traditionell anheimische Bevölkerung. Das heißt, es gibt nicht so etwas wie
ein Recht zu kolonisieren. Gibt es nicht. Und alle vermeintlichen Rechtstitel oder, besser,
Rechtfertigungen, die in der damaligen Zeit unternommen worden waren, die dekonstruiert
kannt als forlogen. Also etwa die Vorstellung, dass bestimmte Landstriche eigentlich an niemandem
gehören. Das ist die Ideologie der Terra nullius oder im Plural terre nullius. Landstriche, die
niemandem gehören. Und wenn das so ist, dass die niemandem gehören, okay, dann kann derjenige, der
Presenters
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
01:06:49 Min
Aufnahmedatum
2020-04-09
Hochgeladen am
2020-04-10 14:47:55
Sprache
de-DE