4 - Tolle, lege! Über soziales Lesen und Schreiben [ID:8881]
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Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.

Auch Ihnen guten Abend. Zwei Seiten von dieser Hörfassung habe ich auch mit eingesprochen.

Vielleicht lag es daran, was die Reaktion im Film tun wird.

Auf der Herfahrt habe ich das, was ich vorbereitet habe für heute Abend noch mal durchgelesen,

ein paar kleine Korrekturen noch vorgenommen, war dann aber irgendwann, also im ersten Teil der

Zugfahrt in der Regionalbahn, maßlos irritiert davon. Ich konnte mich überhaupt nicht auf die

Lektüre konzentrieren, weil hinter uns eine Frau saß, die permanent telefonierte und laut hineinsprach,

sich auf Deutsch sprach, kam offenbar aus Kasachstan und sprach in einer harten Diktion von

teilweise auch sehr bitteren, bösen Erfahrungen und schimpfte über die schlampendeutschen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was es für eine Frau war, ob sie vielleicht eine Prostituierte war,

die über ihre Erfahrungen sprach. Also das, was sie erzählte, tendierte ein bisschen dahin.

Ich hatte einen Satz, den ich ziemlich krass fand, meine Muschel kratzt. Ich drücke sie jetzt einmal aus.

Diese Art von Beeinträchtigung im Lesen ist möglicherweise also nicht nur als Grundrauschen,

sondern eben als White Noise auch im digitalen Raum anwesend, so wie man das eben aus anderen

Situationen auch kennt, in denen man sich nicht konzentrieren kann, sondern eben andere Stimmen

mit anwesend sind, ob leibhaftig oder auch nur imaginär. Augustinus liest gemeinsam mit seinem

Freund Olympius in den Paulusbriefen. Er ist verzweifelt wegen seiner früheren Sünden, läuft davon,

wirft sich unter einen Feigenbaum und hört in der Nähe die Stimme eines Kindes. Er singt immer

wieder, tolle, läge, nimm und lies. Augustinus kehrt um, liest an der Stelle weiter, wo er zuletzt

aufgehört hat, aber nun schweigend den Römerbrief und Paulus gebot, man solle nicht für den eigenen

Leib sorgen, sondern vielmehr sich den Leib Christi wie eine Rüstung überstreifen. Olympius fragt

ihn, wir sind mitten in dem, was man eine soziale Lesesszene nennen könnte, was ihn da so erschüttert.

Ich wies, erzählt Augustinus auf die Stelle und er las unterhalb der Stelle weiter, die ich gelesen

hatte. Ich wusste nicht, was folgen würde und vernahm des Schwachen im Glauben, nehmt euch an.

Die Offenbarung war nun dem stillen Leser möglich, doch zugleich kann man in der Szene auch verstehen,

wie mit großer Selbstverständlichkeit Lesen als eine Form des Denkens und Sprechens noch als soziale

Einheit verstanden wurde. Die Neues, wie das stille Lesen überhaupt erst ermöglichte. Dass sich im

stillen und asozialen Lesen neue Möglichkeiten der Effizienz erweisen würden, spielt in Augustinus

Bekenntnissen eine Rolle, als ein die conversio des Augustinus vorbereitendes Faktum. Spätestens seit

der Renaissance dann aber wird diese Form des Lesens immer wichtiger und das auch noch in einer

grundsätzlichen typologischen Unterscheidung, die einige Formen des sozialen Lesens als von

Effizienzkriterien ökonomischer Interessen, wie Selbstdarstellung und Selbstoptimierung bestimmt

erkennt und andere, die sich auf Texte konzentrieren. Doch zunächst ist es aufschlussreich, diese erste

von vielen Lesescenen näher zu betrachten, denn es handelt sich, anders als über Jahrhunderte

hin korreportiert, um eine genau kalkulierte Inszenierung. Und das erste Mittel der Wahl,

chronologisch wie qualitativ, ist die literarische Fiktion. Es hafteten tief drinnen in meinem

Herzen deine Worte, heißt es zu Beginn des achten Buches der Konfessiones, aber noch immer war ich

mit allen Fasern ans Weib gefesselt. Der junge Augustinus, der als Retor arbeitet und in Bezug auf

Sexualität an seinem Alter durchaus angemessenes Leben führt, adressiert seiner Mutter gegenüber,

dass diverse Lektüren, etwa die Predigten des heiligen Ambrosius, vor allem aber die Lektüre

von Paulus briefen ihn in tiefe Zweifel stürzen, wie es mit diesem seinem Leben bloß weitergehen

soll. Was er liest, nimmt für ihn Gestalt an, und zwar leibhaftig. Zwei Schwestern, Sinnlichkeit

und Enthaltsamkeit begegnen ihm, reden auf ihn ein. Die alten Freundinnen zupften am Kleide meines

Fleisches. Er weiß nicht ein noch aus, auf beiden Seiten locken Knaben und Mädchen. Also, auch das

wird ein für künftige Lesescenen wichtiges Utensil, bricht er in Tränen aus und geht von

Olympius weg in den Garten und wirft sich hin unter einen Feigenbaum. Dass es sich um eine

Feige handelt, ist natürlich auch kein Zufall. In Antikas wie christlicher Tradition wurden Feige

und Feigenbaum als geschlechtliche Symbole verstanden. Augustinus will sich von der Begierde befreien

und wirft sich ihr zu Füßen. Er läuft, rufen wir den Konnotations- und Resonanzraum auf,

den Augustinus aufmacht, aus dem Paradies hinaus. Fort von Gott, weil er nicht mehr weiß wohin in

Presenters

Dr. Guido Graf Dr. Guido Graf

Zugänglich über

Offener Zugang

Dauer

00:50:48 Min

Aufnahmedatum

2018-02-07

Hochgeladen am

2018-02-11 17:51:27

Sprache

de-DE

Mit der Digitalisierung haben sich viele zeitgenössische Sprachkunstwerke endgültig weit von dem entfernt, was gemeinhin als Literatur verhandelt wird. Der literarische Schaffensprozess besteht längst nicht mehr nur – und in Zukunft möglicherweise noch viel weniger – darin, neue, eigene Texte zu verfassen und diese dann einem Verleger zur Publikation in einem gedruckten Buch zu überlassen. Heute schreiben Autor/innen nicht mehr nur, sie programmieren auch, sie kodieren, sie hacken, sie werten Daten aus und sie erzeugen Daten, sie übersetzen, sie transkribieren, sie kopieren, sie kompilieren, sie crowdsourcen, sie setzen, sie drucken, sie posten, sie chatten … Ähnlich vielfältig sind die Werke, die entstehen, die Medien, in denen sie verwirklicht werden, die Orte, an denen sie das Licht der Öffentlichkeit erblicken, die Lektüren, die sie einfordern. Die Ringvorlesung nimmt diese unübersichtliche und noch nicht verfestigte Gemengelage der Medien und Künste nach ihrer Digitalisierung zum Ausgangspunkt und liefert, in aller Vorläufigkeit, eine Bestandsaufnahme aktueller Erscheinungsformen postdigitaler Literatur, die dem Stimmengewirr der Social Media abgelauscht ist, die Reizüberflutung des Internet kanalisiert oder verstärkt, in kollektiven Schreibprozessen entsteht und auch gemeinschaftlich gelesen wird, die ge- und erspielt, abgeschrieben und zusammenkopiert wird, sich Data Mining-Verfahren zunutze macht, sich in die Tiefen des digitalen Codes hineinwagt, vom Computer generiert wird, als Virus oder Hack angelegt ist, Lesen und Schreiben zusammenführt, das ‚alte‘, analoge Medium feiert oder im Gegenteil auf das E-Book setzt und das literarische Feld sowie den literarischen Markt grundlegend aufmischt.
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