Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Auch Ihnen guten Abend. Zwei Seiten von dieser Hörfassung habe ich auch mit eingesprochen.
Vielleicht lag es daran, was die Reaktion im Film tun wird.
Auf der Herfahrt habe ich das, was ich vorbereitet habe für heute Abend noch mal durchgelesen,
ein paar kleine Korrekturen noch vorgenommen, war dann aber irgendwann, also im ersten Teil der
Zugfahrt in der Regionalbahn, maßlos irritiert davon. Ich konnte mich überhaupt nicht auf die
Lektüre konzentrieren, weil hinter uns eine Frau saß, die permanent telefonierte und laut hineinsprach,
sich auf Deutsch sprach, kam offenbar aus Kasachstan und sprach in einer harten Diktion von
teilweise auch sehr bitteren, bösen Erfahrungen und schimpfte über die schlampendeutschen.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was es für eine Frau war, ob sie vielleicht eine Prostituierte war,
die über ihre Erfahrungen sprach. Also das, was sie erzählte, tendierte ein bisschen dahin.
Ich hatte einen Satz, den ich ziemlich krass fand, meine Muschel kratzt. Ich drücke sie jetzt einmal aus.
Diese Art von Beeinträchtigung im Lesen ist möglicherweise also nicht nur als Grundrauschen,
sondern eben als White Noise auch im digitalen Raum anwesend, so wie man das eben aus anderen
Situationen auch kennt, in denen man sich nicht konzentrieren kann, sondern eben andere Stimmen
mit anwesend sind, ob leibhaftig oder auch nur imaginär. Augustinus liest gemeinsam mit seinem
Freund Olympius in den Paulusbriefen. Er ist verzweifelt wegen seiner früheren Sünden, läuft davon,
wirft sich unter einen Feigenbaum und hört in der Nähe die Stimme eines Kindes. Er singt immer
wieder, tolle, läge, nimm und lies. Augustinus kehrt um, liest an der Stelle weiter, wo er zuletzt
aufgehört hat, aber nun schweigend den Römerbrief und Paulus gebot, man solle nicht für den eigenen
Leib sorgen, sondern vielmehr sich den Leib Christi wie eine Rüstung überstreifen. Olympius fragt
ihn, wir sind mitten in dem, was man eine soziale Lesesszene nennen könnte, was ihn da so erschüttert.
Ich wies, erzählt Augustinus auf die Stelle und er las unterhalb der Stelle weiter, die ich gelesen
hatte. Ich wusste nicht, was folgen würde und vernahm des Schwachen im Glauben, nehmt euch an.
Die Offenbarung war nun dem stillen Leser möglich, doch zugleich kann man in der Szene auch verstehen,
wie mit großer Selbstverständlichkeit Lesen als eine Form des Denkens und Sprechens noch als soziale
Einheit verstanden wurde. Die Neues, wie das stille Lesen überhaupt erst ermöglichte. Dass sich im
stillen und asozialen Lesen neue Möglichkeiten der Effizienz erweisen würden, spielt in Augustinus
Bekenntnissen eine Rolle, als ein die conversio des Augustinus vorbereitendes Faktum. Spätestens seit
der Renaissance dann aber wird diese Form des Lesens immer wichtiger und das auch noch in einer
grundsätzlichen typologischen Unterscheidung, die einige Formen des sozialen Lesens als von
Effizienzkriterien ökonomischer Interessen, wie Selbstdarstellung und Selbstoptimierung bestimmt
erkennt und andere, die sich auf Texte konzentrieren. Doch zunächst ist es aufschlussreich, diese erste
von vielen Lesescenen näher zu betrachten, denn es handelt sich, anders als über Jahrhunderte
hin korreportiert, um eine genau kalkulierte Inszenierung. Und das erste Mittel der Wahl,
chronologisch wie qualitativ, ist die literarische Fiktion. Es hafteten tief drinnen in meinem
Herzen deine Worte, heißt es zu Beginn des achten Buches der Konfessiones, aber noch immer war ich
mit allen Fasern ans Weib gefesselt. Der junge Augustinus, der als Retor arbeitet und in Bezug auf
Sexualität an seinem Alter durchaus angemessenes Leben führt, adressiert seiner Mutter gegenüber,
dass diverse Lektüren, etwa die Predigten des heiligen Ambrosius, vor allem aber die Lektüre
von Paulus briefen ihn in tiefe Zweifel stürzen, wie es mit diesem seinem Leben bloß weitergehen
soll. Was er liest, nimmt für ihn Gestalt an, und zwar leibhaftig. Zwei Schwestern, Sinnlichkeit
und Enthaltsamkeit begegnen ihm, reden auf ihn ein. Die alten Freundinnen zupften am Kleide meines
Fleisches. Er weiß nicht ein noch aus, auf beiden Seiten locken Knaben und Mädchen. Also, auch das
wird ein für künftige Lesescenen wichtiges Utensil, bricht er in Tränen aus und geht von
Olympius weg in den Garten und wirft sich hin unter einen Feigenbaum. Dass es sich um eine
Feige handelt, ist natürlich auch kein Zufall. In Antikas wie christlicher Tradition wurden Feige
und Feigenbaum als geschlechtliche Symbole verstanden. Augustinus will sich von der Begierde befreien
und wirft sich ihr zu Füßen. Er läuft, rufen wir den Konnotations- und Resonanzraum auf,
den Augustinus aufmacht, aus dem Paradies hinaus. Fort von Gott, weil er nicht mehr weiß wohin in
Presenters
Dr. Guido Graf
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:50:48 Min
Aufnahmedatum
2018-02-07
Hochgeladen am
2018-02-11 17:51:27
Sprache
de-DE