Ganz herzlichen Dank für die Einladung und auch für die einführenden Worte.
Meine allererste Patientin, noch als Musiktherapiestudentin, starb auf eine
Weise, die mir noch heute nahe geht. Ich hatte ein Pilotprojekt Musiktherapie in der Onkologie
begonnen und sie, Marin, eine junge Frau, Mitte 20, Klavierbauerin von Beruf, wurde
mir von einem Oberarzt zugewiesen, weil wir beide voneinander profitieren könnten. Sie,
indem sie eine therapeutische Begleitung in der Finalphase ihrer Krebserkrankung erhielt,
ich, weil ich jemanden hatte, an dem ich meine Erfahrungen sammeln konnte. Eine Beziehung
folglich, die wie andere therapeutische Beziehungen aber auch um eines wechselseitigen
Nutzenswillen geschlossen wurde, bei der jedoch von vornherein feststand, dass sie durch den Tod
der Patientin begrenzt sein würde. Ein Beginn am Ende, ein Neubeginn, nicht obwohl, sondern weil
es ein Ende geben würde. Marin wohnte noch in ihrer eigenen Wohnung. Marin sah schrecklich aus.
Der Körper war mager, das Gesicht aufgedunsen und blau gefärbt. Marin war schwach und Marin
wollte keine Musik hören oder machen. Manchmal redeten wir über Musik. Musik, die für viele als
Trostspenderin angesehen wird, stand bei Marin, der Klavierbauerin, für das Verlorene. Unsere
Bekanntschaft, Therapie mag ich es nicht wirklich nennen, obwohl es doch eine professionelle
Beziehung war, dauerte ein Dreivierteljahr, länger als wir wohl beide am Anfang gedacht hatten. Ich
erinnere einen Zeitraum, der still zu stehen schien, obwohl der körperliche Zerfallsprozess weiter
voranschritt. In diesem Zeitraum entstand eine Nähe, die darin bestand, sich über das einander
nicht näher kommen, einig zu sein. Eine Nähe, die sozusagen eingefroren wurde. Ich überschritt eine
Grenze, als ich in das Zimmer auf der Onkologie-Station trat, in dem Marin ihre letzten
Stunden verbrachte. Entsetzt blickte sie mich an und um mich hinauszuwerfen aus ihrem Leben
fruchtelte sie mit Armen und Beinen, weil sie nicht mehr sprechen konnte. Das Fuchteln ist mir ins
Gedächtnis eingebrannt und Scham. Scham, weil ich nicht gewusst, weil ich nicht geahnt hatte, wie
grauenvoll das Sterben sein kann. Ich entfernte mich schnell und wusste nicht wohin mit mir. Am
nächsten Morgen fiel mir ein Stück Musik ein, das Marin geliebt hatte. Minions aus dem schumanschen
Album für die Jugend. Ich setzte mich ans Klavier, spielte es und nahm Abschied von Marin.
Verehrtes Publikum, ich werde nur sehr wenige Folien präsentieren, aber mit dieser hier beginne
ich. In der Musiktherapie werden Musikspielen oder Musik hören eingesetzt, um mittels Anregungen
von sinnlich-ästhetischer Aktivität körperliche, emotionale und kommunikative Prozesse in Gang zu
setzen, die zur Verbesserung des Befindens beitragen. Dass Marin in ihrer Musiktherapie keine
Musik machte, darüber kann man diskutieren, ob es dann immer noch Musiktherapie ist, aber das
würde jetzt hier vielleicht zu weit gehen. Es ist ja auch erstmal eine ganz allgemeine Beschreibung
und soll gleich noch auf die palliativ-therapeutischen Bedingungen angepasst werden. Zunächst aber ist zu
fragen, warum überhaupt Musik hören oder Musik spielen in der Therapie eingesetzt werden und ich
wähle hier einen anthropologischen Erklärungsansatz zur Funktion von Kunst im menschlichen Leben
allgemein und stelle Ihnen vier Thesen vor. Aus anthropologischer Sicht wird die Entstehung und
Funktion von Kunst mit dem Bewusstwerden der Risiken des Überlebens in Verbindung gebracht.
Der Mensch braucht ein Medium, das ihm die Bewältigung seiner Emotionen ermöglicht.
Sehr vereinfacht und in ein Bild gebracht, man malt die Dämonen an die Wand seiner Höhle, um mit
ihnen leben zu können oder man malt an die Wand die Freude, die sonst sterbliche Freude. Mit dieser
wunderbaren Beschreibung drückt Max Frisch aus, dass der Mensch eines konkreten Außen bedürftig ist,
um seiner selbst gewahr sein zu können. Das trifft auf die elementare ästhetische Praxis des Menschen
in der Frühzeit ebenso zu wie auf die eines Kindes, das mit seiner Rassel spielt. Entsprechend einer
zweiten These ermöglicht das sinnlich wahrgenommene und gestaltete Material Orientierung und es
bereichert das Handeln durch die Entwicklung von Alternativen. Im Fall von Mahren die Alternative
eben auch keine Musik zu machen, sondern nur über Musik zu sprechen. Konkret bedeutet dies,
dass der Mensch, indem er sich mit einem Material befasst, etwas ausprobieren kann, aber auch
Entscheidungen trifft, zum Beispiel ob er etwas beginnen oder beenden möchte, ob er diesen oder
jenen Klang bevorzugt, ob er sich dem Klanggeschehen hingibt oder in einer kritischen Distanz verweilt.
Wenn der Mensch im Zuge dessen eine Übereinstimmung zwischen äußerer Gestalt und einem inneren
Presenters
Prof. Dr. Susanne Metzler
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:39:26 Min
Aufnahmedatum
2019-12-18
Hochgeladen am
2020-01-03 09:53:00
Sprache
de-DE