Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Sehr geehrte Damen und Herren, ein Arm des Heiligen Eventius, ein Knochen des Heiligen Martin,
ein Stein aus Christi Grab, ein Stück von Moses Stab, Blut des Heiligen Stefan,
ein Fetzen des Kleides des Heiligen Laurentius und dazu noch Knochen von Quintinus, Symphorianus
Chrysanthus, Georgius Anastasius Leudegarius, Agatha und Eugenia, Valentinus, Mauritius dem
Thebaner, Anatolia und Walburga. Das sind nur einige der heiligen Reliquien, die spätestens im
11. Jahrhundert in der Stiftkirche Aschaffenburg aufbewahrt und verehrt wurden. Aschaffenburg
erfreute sich der Gegenwart von über 60 Heiligen und ihrer Überresten, die in den verschiedenen
Altären der Kirche verteilt waren. Aber einen richtigen anziehungskräftigen Heiligen besaß man
nicht und die Pilgerfahrt zur unterfränkischen Stadt blieb deswegen eine bescheidene Sache.
Andere Indes konnten mit glanzvolleren Überresten prunken. Fangen wir an mit Jesus Christus. Von ihm
konnte man nie behaupten, man habe seinen natürlichen Leib. Also häufte man viel anderes Zeug an dessen
Stelle, um die Lücke zu füllen. Trotzdem ließ man sich den Leib Christi nicht entgehen, ohne ein
paar Stückchen zurückzubehalten. Denn abgesehen von Zähnen und Haaren rühmt sich zum Beispiel die
Abteil von Charoux in der diözeuse Portier die Vorhaut Christi zu besitzen, die bei der Beschneidung
entfernt wurde. Ich bitte Sie, woher kam denn zu den Mönchen diese Vorhaut? Der Evangelist Markus
erzählt in der Tat, dass unser Herb beschnitten wurde. Aber dass man die Vorhaut aufbewahrte, um
daraus eine Reliquie zu machen, davon ist nirgends die Rede bei ihm. Und fünf Jahrhunderte lang wusste
niemand etwas davon in der Kirche. Wo hat man sie denn versteckt, dass sie dann so plötzlich
auftauchte? Zitat Ende. Wer sich hier eschoffiert ist der gestrenge Johannes Calvin, der in seiner
Abhandlung über die Reliquien von 1543 seine satirische Ader voll ausleben konnte. Verehrung
und Kult für die Überreste von Menschen lehnte er kategorisch ab und hielt Reliquien aller Art
weigehend für eine Mockerie, für Schwindel und Fopperrei, also die schlauer Klediker einsetzten,
um die Kirchenfinanzen auszubessern. Für überbordende Sammlungen, wie sie in Charoux oder
auch in Aschaffenburg aufbewahrt wurden, hatte er nur Spott und Häme. Die Kritik gegen übertriebene
Formen des Heiligen Kultes, sowohl was Bilder als auch was Reliquien angeht, ist indes keine
Erfindung der Reformatorin im 16. Jahrhundert. Man braucht hier nur auf Boccaccio als den
bekanntesten Autor hinzuweisen, der schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts lustige Geschichten
von fetten Mönchen zu erzählen wusste, welche ihre blauäugigen Zeitgenossen hereinlegten.
Besonders gelungen ist die Geschichte von Frate Cipolla. Dieser Frate Cipolla pflegte,
eine Papageifeder zu zeigen und sie als eine Feder der Flügel des Erzengels Gabriel zu verkaufen.
Da ersetzten ihm zwei Witzbolde die Feder mit Kohle. Bruder Cipolla staunte nicht wenig,
als er das Kästchen aufmachte. Doch fing er sich sofort und erklärte den verdutzten Zuhörern,
das sei just jene Kohle, auf welcher der Heilige Laurentius geröstet wurde. Der allgemeine Jubel
des Volkes beschämte die Reliquiendiebe, die ihm schließlich die Feder zurückgaben.
Es besteht kein Zweifel, dass der Kampf der Reformatoren gegen den Reliquienkult eine
andere Qualität besaß, als die gelegentlichen Zweifel, die gegenüber Einzelreliquien und deren
zweideutige Besitzer gehegt wurden. Sie gingen aufs Ganze, verneinten den Nutzen einer Vermittlung
zwischen Gott und Menschen über Materielles und schufen somit ein Christentum, dem ein neues
Modell von Kommunikation zwischen Dies und Jenseits zugrunde liegt. Die Unmittelbarkeit des Glaubens
benötige in einer Religion des Geistes keine Fürsprecher und schon gar keine Heiligen Knochen,
welche durch Wunder die Macht Gottes bezeugen. Das stellt eine radikale Abwendung von den
theologischen Meinungen und den Kultgewohnheiten dar, wie sie sich seit der Spätaantik etabliert
hatten. Denn dadurch wurden die Hauptzüge des Sakralen abgeschafft, nämlich Präsenz und
Differenz. Die Präsenz des Heiligen äußert sich über das sinnlich Wahrnehmbare und spezifisch
im Heiligenkult über das Körperliche, das als Medium wirkt und trotz seines Kontingenten,
weil vergänglichen Charakters auf die Evidenz seiner Exzeptionalität hinweist. Die Exzeptionalität
des Heiligen markiert ihrerseits die Differenz, die für seinen sakralen Charakter konstituierend
ist. Der Heilige Leib ist keine gewöhnliche Leiche und ihre Ausstrahlung führt zur Sakralisierung des
ihr umgebenden Raumes, der zumindest in der westlichen Tradition sekundär ist gegenüber dem
Presenters
Prof. Dr. Michele C. Ferrari
MA Andrea Beck
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:43:47 Min
Aufnahmedatum
2012-05-16
Hochgeladen am
2012-05-24 09:36:35
Sprache
de-DE
Der Vortrag geht der Frage nach, wie es möglich sein kann, dass im Zürichder Frühen Neuzeit die Märtyrer Felix und Regula noch immer stark präsentwaren, obwohl die Stadt unter Ulrich Zwingli zu Beginn des 16.Jahrhunderts bereits reformiert worden war. Hierbei äußerte sich diePräsenz der Heiligen nicht über Körperliches und sinnlich Wahrzunehmendes,da dies nach Zwinglis Aufhebung der Heiligenverehrung im Allgemeinen undseiner Zerstörung des Grabes von Felix und Regula im Besonderen nicht mehrmöglich war. Nach diesem Bruch in der kulturellen Verehrung der beidenStadtpatrone zeigte sich deren Gegenwart in vielerlei anderen Formen, diedann von den Jesuiten aufgegriffen wurden und in der Polemik gegen dieReformierten eingesetzt wurden.