Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Ja, meine Damen und Herren, einen schönen guten Abend. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind
und habe das Vergnügen, über dieses Thema zu reden. Abschied vom Ziel der Hochschulreife.
Wohin führt die gymnasiale Ausbildung? Das Problem also. Elspeth Stern, eine sehr bekannte und
anerkannte in der Schweiz lehrende Lernpsychologin, hat kürzlich in einem dann viel diskutierten
Interview mit Spiegel Online, die für die deutsche Entwicklung ziemlich provokative
These vertreten, dass nur 20 bis 25 Prozent der Schülerschaft das Gymnasium besuchen sollten, wenn
man das Gymnasium als Vorbereitung für ein universitäres Studium verstehen wolle. Ich zitiere.
Das Gymnasium als Massenschule hat folgenden Nachteil. Die meisten Gymnasiasten sind nur
mittelmäßig begabt und intellektuell nicht ganz auf der Höhe. Das ergibt sich zwangsläufig aus
der Normalverteilung der Intelligenz. Sie können nicht so gut logisch denken oder sich in abstrakte
Themen einarbeiten. Ich bin auch dafür, dass die Studierquote nicht 20 Prozent eines Altersjahrgangs
überschreitet. Die Universität ist eine Forschungsanstalt. Wir Professoren haben nicht
die Aufgabe, Leute zu fördern, die nicht wirklich etwas mit Wissenschaft am Hut haben. Für die
Mehrheit sollte es gute Fachhochschulen und eine funktionierende Berufsbildung geben.
Start Ende. Wenn man das Gymnasium als Vorbereitung der Universität haben oder wieder haben wollte,
müsste man es also ungefähr halbieren. Was immer man von den Vorschlägen Elspeth-Sterns
und ihren Begründungen halten mag, klar ist, dass sie in Deutschland in absehbarer Zukunft sicher
nicht umgesetzt werden werden. Klar ist damit auch, dass die Frage nach dem Sinn des Gymnasiums als
Massenschule anders beantwortet werden muss. Offenbar kann die Hochschulreife allein nicht
das Kriterium sein, das ein modernes Massengymnasium rechtfertigt. Was aber dann? In solchen Fällen
empfiehlt es sich erstmal bei den Klassikern nachzusehen, beim Gymnasium also bei Wilhelm von
Humboldt. Und ich zitiere Humboldt. Der allgemeine Schulunterricht geht auf den Menschen überhaupt.
Und zwar als gymnastischer, ästhetischer, didaktischer und in dieser letzteren Hinsicht
wieder als mathematischer, philosophischer, der in dem Schulunterricht nur durch die Form der
Sprachereien sonst immer historisch-philosophisch ist und historischer, auf die Hauptfunktion seines
des menschlichen Wesens. Dieser gesamte Unterricht kennt daher auch nur ein und dasselbe Fundament.
Denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüt ursprünglich
gleichgestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh und dieser nicht unter
der Menschenkraft sentimental, chimerisch und verschoben werden soll. Zitat Ende.
Gymnastik, also Sport. Ästhetik, also Künste. Didaktik, also Wissenschaften, Mathematik,
Philosophie, Sprache und Geschichte nennt Humboldt als die notwendigen Gegenstände
schulischer Bildung. Der Körper, die Sinne und die Seele und der Geist müssen je für sich vor
allem aber auch gemeinsam gebildet werden, wenn der Bildungsprozess gelingen soll. Auch diese
Reihenfolge stammt von Humboldt, was man ja vielleicht nicht so erwarten würde. Dass der
Sport und die Kunst vor der Wissenschaft kommen, hat das Gymnasium im 19. Jahrhundert im Laufe
seiner Transformation zur bildungsbürgerlichen Selektions- und Eliteanstalt ja fast vollständig
vergessen. Auch in den aktuellen PISA-Diskussionen spielten diese Dimensionen überhaupt keine Rolle.
Humboldt hat sein Konzept allgemeiner Bildung anthropologisch begründet und er hat den Schüler,
und da ist da der Gymnasiast gemeint, dann für reif angesehen, Zitat, wenn er so viel bei anderen
gelernt hat, dass er nun für sich selbst zu lernen im Stande ist, Zitat Ende. Über allgemeine Bildung
kann man bei Humboldt immer noch viel, wenn auch nicht alles, lernen. Das Entscheidende am
Bildungsbegriff, das ihn systematisch von Qualifikations- oder von Kompetenzbegriffen
unterscheidet, ist der systematische Bezug auf die Verknüpfung von Ich-Bildung und Weltbildung.
Die individuelle, Zitat, höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte
zu einem Ganzen, Tat Ende, kann dem sich Bildenden nur in der Wechselwirkung zwischen Ich und Welt
gelingen. Die Bildung des Ich ist an die Gestaltung von Welt gebunden. Politisch und pädagogisch
ausschlaggebend für einen Weiten die Künste einschließenden und hochgewichtenden gymnasialen
Bildungsbegriff sind soziale und anthropologische Gründe. Ich lasse die anthropologische Begründung
hier aus und konzentriere mich auf den sozialen Grund. Bildung zielt darauf, dass Menschen sich
Presenters
Prof. Dr. Eckart Liebau
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:32:34 Min
Aufnahmedatum
2013-05-23
Hochgeladen am
2013-06-10 16:09:38
Sprache
de-DE
Der Vortrag "Abschied von der Hochschulreife - wohin führt die gymnasiale Ausbildung" thematisiert das Problem gymnasialer Massenbildung unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen. Inhaltlich geht es 1. um die durch die Expansion entstandene Problemlage, 2. um die Inhalte gymnasialer Bildung heute, die eine stärkere Orientierung an den Künsten und an der Praxis brauchen, 3. um die Stärkung der Entwicklungsorientierung des gymnasialen Bildungsgangs, 4. um die besonderen Ressourcen, die den Gymnasien mit ihrer Lehrerschaft und ihrer Schülerschaft zur Verfügung stehen. Im Ergebnis zeigt sich, dass klassische Konzepte allgemeiner Menschenbildung die zukunftsträchtigste Variante der Gymnasilaentwicklung zu bieten haben.