1 - Was uns antreibt: Blick auf den Nahen Osten [ID:53645]
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Danke für eure Anwesenheit. Ich fange einfach an mit unserem Thema. Seit dem Ende des letzten

Jahrhunderts hat die Welt eine beschleunigte Rückkehr der Religionen erlebt, woraus eine

größere Rolle von der Religion in Politik und im öffentlichen Raum erwächst. Das Wiederaufleben

der Religion ist so weitreichend, dass der Begriff des Postsäkularen in der Theorie der

internationalen Beziehungen häufig gebräuchlich geworden ist. Europa und zu einem gewissen Grad

China stellen womöglich die einzigen Ausnahmen dieser Entwicklung dar. In vielen Teilen der

Welt dagegen, insbesondere in den islamischen Regionen, ist das Wiederaufleben der Religion

dadurch beschleunigt worden, dass die Nationalstaaten daran scheiterten, eine echtes

staatsbürgerliches Bewusstsein herauszubilden. Die allmähliche Abschaffung des nationalstaatlichen

Paradigmas in den arabischen Staaten nach dem Kalten Krieg war womöglich der Hauptgrund für

die endgültige Rückentwicklung des arabischen Staats zu, wenn überhaupt, einem reinen Anbieter

öffentlicher Dienste. In der Levante, Jemen, Libyen, in Mesopotamien und Palästina ist das

Nationalstaatenprojekt entweder komplett gescheitert oder hat wie in Palästina nie begonnen. Und genau

in diesen Ländern und Territorien entstand die Achse des Widerstands und später die Achse von

Jerusalem. Der Begriff der Achse des Widerstands entstand 2002 als Reaktion auf den amerikanischen

Präsidenten George W. Bush, der in seiner Rede zur Lage der Nation den Iran, den Irak und Nordkorea als

Achse des Bösen bezeichnet hatte. Nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien in 2011 verwendete die

iranische Führung den Begriff Achse des Widerstands vermehrt, um ihre Allianz mit dem Regime von

Bashar al-Assad in Syrien und die libanesischen Hisbollah zu bezeichnen. Das Bündnis wurde von

Kommandeur Qasem Soleimani, dem ehemaligen Leiter der iranischen Qudsbrigaden, gefestigt. Die

arabischen Muslime, Schiiten und Sunniten, diese Achse richteten sich in erster Linie gegen den

israelischen Staat und die Präsenz der USA im Mittleren Osten. Es handelt sich dabei um ein

breites Netzwerk aus nichtstaatlichen Gruppierungen. Dazu gehören neben der libanesischen

Hisbollah auch die Hamas, der palästinensische islamische Dschihad und eine Reihe irakischer und

syrischer Milizen sowie die Huthi-Rebellen im Jemen. Am 7. Oktober kam diese Achse unter dem

Namen Achse von Jerusalem in einen direkten und offenen Konflikt zunächst gegen Israel und gegen

Amerikas Präsenz im Nahost allgemein. Bis heute, 279 Tage nach dem Ausbruch der Gewalt, bleibt die

offizielle Bezeichnung dieses Kriegs im westlichen politischen Raum der Israel-Hamas-Krieg. Diese

Bezeichnung reduziert den Konflikt sowohl geografisch wie auch diskursiv. Obwohl sich der

Konflikt seit der Beteiligung Hisbollahs schon ab dem 8. Oktober auf die Huthis aus dem Jemen und

kurz danach auf den Irak ausweitete und somit längst nicht mehr geografisch auf Gaza zu begrenzen

ist, vermeidet die offizielle amerikanische und auch die europäische Bezeichnung jede Anerkennung

des regionalen Ausmaßes des Konflikts. Darüber hinaus wird jeder Diskurs von einem religiösen

Krieg und einem Kampf der Kulturen vermieden. Die amerikanische und europäische Strategie bleibt,

bis heute einen Weg zur geostrategischen und diskursiven Deeskalation zu sichern. Deswegen

reden wir vorsichtig im öffentlichen Raum und bleiben beim offiziellen Diskurs. Aber in einer

Diskussion unter Chatham Rule zwischen Experten für Religionen und interreligiösen Dialog,

müssen wir erkennen, dass eine diskursive Eskalation des Kriegs auf den Ebenen von

Kulturen und Religionen und seiner regionalen Expansion wahrscheinlich im Sinne der zwei

Beteiligten ist. Die Hamas erwartete eine tosende Flut. Der israelische Premierminister will in den

Libanon und den Iran. Weder der eine noch der andere will ein schnelles Ende des Konflikts.

Religion wird scheinbar seit dem 7. Oktober nicht bloß zynisch instrumentalisiert,

wie bei ISIS zum Beispiel, sondern dieser Krieg ist ein klares Indiz dafür,

dass religiöse Gründe in der Levante, Jemen und Mesopotamien den Konflikt beleben. Der Glaube,

insbesondere jener, der sich auf heilige Topographie und die Bedeutung des Raums bezieht,

so wie Prophezeiungen über Geschichte und ihre Bedeutung sind tatsächlich zu integralen

Gründen für Kämpfe geworden. Wir reden häufig von geopolitischen Gründen für Krieg.

Es ist vielleicht langsam notwendig, dass wir die theopolitischen Gründe anerkennen.

Geist heute treibt die Geschichte wieder voran, genau wie Wirtschaft und Geographie ihre Parameter

bestimmen. Der Kampf im Heiligen Land hat anerkanntermaßen geopolitische, wirtschaftliche sowie

Presenters

Dr. Ghassan el Masri Dr. Ghassan el Masri

Zugänglich über

Offener Zugang

Dauer

00:35:45 Min

Aufnahmedatum

2024-07-11

Hochgeladen am

2025-09-02 12:26:56

Sprache

de-DE

Dr. Ghassan El Masri

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