Nun seid ihr Fürstenknechte.
Diesen Satz, meine sehr geehrten Damen und Herren, haben Sie wahrscheinlich schon verinnerlicht,
wenn Sie die Zeitungsartikel und Ausstellungen, Vorträge und Veranstaltungen des fränkisch-bayerischen
Jubiläumsjahr 2006 auch nur ein wenig verfolgt haben. Die Frau des Nürnberger
Kaufmanns, Paul-Wilhelm Merkel, soll ihren Kindern mit diesen Worten weinend um den
Hals gefallen sein, als während der Übergabefeierlichkeiten am 15. September
1806 um 10 Uhr vormittags die Glocken der Stadt geläutet wurden. Bei alledem darf
allerdings eines nicht übersehen werden. Der bestürzte Ausruf der Margareta
Elisabeth Merkel von 1806 gibt nicht etwa Realität wieder. Real war die Übergabe
der Macht von den Franzosen an den bayerischen Generalkommissar. Real war das
Geloite der Glocken anlässlich dieses Aktes. Die zitierte Äußerung aber war eine
bloße Einschätzung dieses Geschehens. Der drohenden Fürstenknechtschaft wurde
hier unausgesprochen, doch unübersehbar, ein idealistisches Freiheitskonzept
gegenübergestellt, wie es gerade in der Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts
populär geworden war. Gerade die gebildeten Milieus, die sich als
volksaufklärerisch verstanden und am Gemeinen wohlorientiert waren, nahmen
derartige Vorstellungen und Schlagworte auf. Ihnen gehörten auch die Merkels an,
eine der arriviertesten bürgerlichen Familien Nürnbergs. Der ebenso hilflose wie
pessimistische Ausruf spiegelt also eine bestimmte Sichtweise der Dinge wieder. Und
die Erfahrung zeigt uns, dass es stets eine Mehrzahl solcher subjektiver
Wahrheiten gibt. Sie existieren nebeneinander, lassen sich nicht etwa
gegenseitig aufrechnen. Das Gemeinsam Erlebte lässt sich unter ganz verschiedenen
Prämissen und Blickwinkeln betrachten und jede dieser Perspektiven hat ihre
Berechtigung. Auch wir dürfen die wahrnehmungsgeschichtliche Komplexität
also nicht einfach nur reduzieren. Stattdessen haben wir zu fragen, welche
Bedingungen und Interessen hinter den einzelnen Sichtweisen stehen.
Gerade die Literatur kann für solche Fragestellungen wertvolles
Quellenmaterial liefern. Die bayerische Besitzergreifung Nürnbergs, auf die ich
mich im Folgenden konzentrieren werde, hat bei den unmittelbar Betroffenen ganz
unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Das gilt auch für die
Literaten, die die Beseitigung der alten oligarchischen Ordnung und die
Unterstellung der Reichsstadt unter die Krone Bayern im Herbst 1806 als
Zeitzeugen miterlebten. Es ist naheliegend, dass die Milieuzugehörigkeit
und die Interessenlagen der Autoren bei der Wahrnehmungsweise eine
ausschlaggebende Rolle spielten und so sind auch die Nürnberger Literaten ganz
und gar nicht einmütig in den Ton eingefallen, der mit dem eingangs zitierten
Ausspruch der Frau Merkel angestimmt war. Anders als vielleicht zu vermuten, hat
es unter den gebrauchsliterarischen Texten sogar keinen gegeben, der
ausgesprochen kritisch oder gar pamphletistisch gewesen wäre.
Anonyme Flugblätter hatten einst die preußischen Zugriffe auf reichstädtisches
Territorium verurteilt, satirische Gedichte und bissige Einblattdrucke in
den Jahren seit 1800 über die französischen Besatzer gespottet.
Zeitweilig galt Nürnberg geradezu als Zentrum des pamphletistischen Kampfes
gegen Napoleon und seine Verbündeten. Über die neuen bayerischen Herren
hingegen, denen die Stadt im September 1806 übergeben wurde,
finden sich keine solchen Stellungnahmen.
Das muss nicht unbedingt mit der Begeisterung der Nürnberger Bürger
über die neuen Verhältnisse zu tun gehabt haben.
Es hing vielmehr damit zusammen, dass sich die Bildungsliteratur derzeit eher
mit schön geistigen oder didaktischen Themen beschäftigte. Anders als etwa im
Presenters
Prof. Dr. Werner Wilhelm Schnabel
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:30:03 Min
Aufnahmedatum
2007-08-02
Hochgeladen am
2017-07-06 14:13:58
Sprache
de-DE