6 - VL LAEW M1 Bildung und Erziehung in systematischer und historischer Perspektive [ID:58258]
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Wir haben gesehen, dass Modernisierungsprozesse mit Desintegrationen, gesellschaftlichen Desintegrationseffekten, einhergeht,

die eine besondere Herausforderung für Bildung und insbesondere auch Bildungstheorie darstellen.

Ich stelle Ihnen in diesem Zusammenhang die Position des Erziehungswissenschaftlers Winfried Marotsky vor,

dieser beginnt in den 1980er Jahren, also genau zu dieser Zeit, in der diese Kontingenzsteigerung, von der ich gleich auch mehr sprechen werde,

in der diese Kontingenzsteigerung im sozialwissenschaftlichen Diskurs und eben auch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs insbesondere in das Blickfeld gerückt ist.

Marotsky geht aus von der Diagnose zunehmender Krisen und das kommt uns in unserer Gegenwart natürlich bekannt vor.

Er schließt unter anderem an die Arbeit von Wilhelm Heidmeier, der gesellschaftliche Krisen in drei unterschiedliche Krisentypen unterscheidet.

Zunächst Strukturkrisen, damit gemeint ist ein gesamtgesellschaftlicher ökonomischer Wandel,

also etwa ein Wandel von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft, das habe ich Ihnen hier dargestellt,

anhand zweier Gemälde, die ungefähr zur gleichen Zeit entstanden sind, nämlich Vincent van Goghs Holzsammler im Schnee und das Eisenwaldswerk von Adolf Menzel.

Sie sehen oben eine bäuerliche Umgebung und unten eine vollendete Industrialisierungsszene.

Und das deutet natürlich auf den entsprechenden ökonomischen Wandel auch in seinen Auswirkungen auf die Lebensweisen von Menschen hin.

Das war ein Thema des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Der Wandel der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft geschah in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Dienstleistungs- zur Informations- und Wissensgesellschaft

und heute sind wir in einer Wissensgesellschaft, die sich digitalisiert hat.

Solche Umbrüche wie beispielsweise der Wandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft in den circa, das sind längerfristige Prozesse freilich,

aber so in den 1960er, 1970er Jahren haben weitreichende Folgen.

Wandelt sich also das Haupteinkommensfeld einer Gesellschaft oder die Hauptquelle der Reichtümer in dieser Form,

dann bedeutet das ja beispielsweise, dass der Wert der Landwirtschaft, der gesellschaftliche Wert der Landwirtschaft, übertroffen wird von dem Wert der industriellen Produktion.

Oder dass der Wert der industriellen Produktion vielleicht nicht übertroffen wird, aber jedenfalls neben ihnen ein gesellschaftlicher Wert,

also ein ökonomischer Wertschöpfungsbereich auftritt, eben der Dienstleistungsgesellschaft, der dann mit erheblichen Folgen verbunden ist.

Das kann beispielsweise bedeuten, dass in der traditionellen Arbeiter- oder Angestelltenfamilie der Industriegesellschaft, nachdem ein solcher Wandel eintritt,

und hier könnte man an das Ruhrgebiet denken und an den Strukturwandel dort, das heißt die Schließung der Zechen,

die Schließung von Stahlwerken oder ähnliche Geschichten, die dann eben auch zur Freisetzung von Arbeitern geführt haben,

die eben in den Zechen, also Grubenarbeitern in dem Fall, gearbeitet haben.

Dies führt dazu, dass dann irgendwie Geld verdient werden muss und eine aufkommende Dienstleistungsgesellschaft ermöglicht das.

Dienstleistungen werden dann jedenfalls zu einem gewissen Teil eben nicht von den Arbeitern, die vielleicht ihr Leben lang in der Grube gearbeitet haben,

erbracht, die jetzt plötzlich irgendwie in irgendeinen Dienstleistungssektor hineingehen und vielleicht eine beratende Tätigkeit ausführen,

sondern beispielsweise dann eben von Frauen, die vorher Hausfrauen waren und die dann beginnen im Dienstleistungssektor Jobs anzunehmen.

Für eine traditionelle Familie in diesem Szenario würde das zum Beispiel ja auch bedeuten, dass die Einkommensquelle nicht mehr ausschließlich beim Mann- oder Familienvater liegt,

sondern bei der Frau. Damit verschieben sich dann die ökonomischen Verhältnisse eben nicht nur außerhalb der Familie, sondern auch innerhalb der Familie

und damit wiederum verschieben sich auch die Machtverhältnisse innerhalb der Familie.

Skurrilerweise war es in der Bundesrepublik Deutschland bis in die 60er Jahre hinein tatsächlich noch so, dass per Gesetz Männer der Arbeit ihrer Ehefrauen zustimmen mussten.

Also eine Ehefrau war gar nicht frei, eine Arbeit aufzunehmen. Das klingt unglaublich, aber es ist der Fall und das wurde dann auch schleunigst geändert.

Mit solchen veränderten Positionen, wenn also beispielsweise der Vater in der Familie oder der Mann eben arbeitslos ist, und es ist klar, dass ich jetzt in diesem konstruierten Beispiel von heteronormativen Gesellschafts- und Familienformen ausgehe in den 60er Jahren,

die keineswegs selbstverständlich sind heutzutage, um das Beispiel zu wählen. Dass ein solcher Wandel, wenn also in diesem Fall tatsächlich die Frau das Haupteinkommen hätte oder einen erheblichen Teil des Einkommens,

einen maßgeblichen Teil des Einkommens, dann hat sie naheliegenderweise auch innerhalb der Familie ein viel höheres Maß an Mitbestimmung und ein viel höheres Maß an Freiheit.

Denn es droht ja gewissermaßen, wenn die Zustände ihr nicht gefallen in diesem Fall, dass sie sich herauslöst aus diesem Verband,

also dann eben sich scheiden lässt und ökonomisch eigenständig ein anderes Leben lebt.

Also insofern gibt es dann eben Fliehkräfte, die schon auf dieser Ebene der ökonomischen Verschiebungen in die Lebenswelten, wie wir im Anschluss an Habermas ja sagen würden, hineindringen.

Und was man daran sieht, ist, dass sich Begründungsgefüge verändern. Ihnen ist das vielleicht bekannt, diese alten Erziehungssprüche, die ich in meiner Kindheit noch nicht selbst gehört habe,

aber von anderen gehört habe, wie solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, wird getan, was ich sage, also dieser alte Vaterspruch.

Das verliert natürlich mit solchen Machtverschiebungen oder Verschiebungen auch in den Rollenverständnissen innerhalb der Familie an Bindungskraft.

Und damit müssen neue Muster gesucht werden und neue Rollendefinitionen ausgehandelt werden innerhalb der Familie.

Und Sie merken schon, das ist kompliziert. Das, was vorher einem vielleicht nicht gefallen hat, sagen wir mal jetzt in diesem Beispiel, konstruieren wir uns eine autoritäre Vaterfigur.

Parter familias und der Rest der Familie folgt eben, das war natürlich häufig eben auch Gegenstand von Auseinandersetzungsprozessen durch die ganze Geschichte hindurch.

Es schafft aber Klarheit. Und wenn diese Rolle sich auflöst, dann werden Dinge sehr komplex und undurchschaubar, weil man ja dann wieder schauen muss, wer man eigentlich selber ist in Bezug auf die anderen.

Und das ganze System in diesem Fall der Familie muss sich rekonfigurieren. Und diese Rekonfiguration findet ja auch in einem sozialen Umfeld statt.

Und dann waren die Sprüche der der sechziger Jahre, dass dann eben unter den Männern sozusagen, dass dann die Frau plötzlich die Hosen an habe und so.

Und was denn da los sei. Also Sie merken, sowas ist folgenreich auf der kompletten Ebene eigentlich der gesellschaftlichen Strukturen sorgt, reichlich für Verunsicherung.

Zugänglich über

Offener Zugang

Dauer

02:10:25 Min

Aufnahmedatum

2025-07-01

Hochgeladen am

2025-07-03 14:46:06

Sprache

de-DE

Transformatorische Bildungstheorie (Reflexive Individualisierung in der Moderne am Beispiel der Bildungstheorie von Winfried Marotzki)

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