Dieser Audiobeitrag wird von der Universität Erlangen-Nürnberg präsentiert.
Und natürlich möchte ich mich auch bedanken, in dem Rahmen dieser Ringvorlesung einen kleinen
Beitrag leisten zu können. Ich erzähle dir mal, wie das so läuft. Es ist Samstag, es klingelt und
du hetzt im Bademantel und Nasstropfen zur Tür, weil es wichtig sein könnte. Ein Paket vielleicht,
oder deine Frau oder dein Mann, die vom Einkaufen zurückkommen und die Schlüssel vergessen haben.
Es könnte wichtig sein, denkst du, und weh, das sind die Zeugen Jehovas. Natürlich sind es die
Zeugen Jehovas, freundlich lächelnde Zeugen Jehovas. Guten Morgen. Einer der beiden Besucher spult den
auswendig gelernten Gesprächseinstieg ab, während er dich und dein Zuhause durch den Türrahmen
scant. Der andere lächelt freundlich. Er wird mit unwiderstehlichen Schlagworten um sich werfen,
als spiele er Mahlen nach Zahlen auf einem Bullshit-Bingozettel, ein Best-of der kleinsten
gemeinsamen Nenner der Menschheit, bis er mit einem ins Schwarze trifft. Vielleicht sagst du diesmal
aber auch, dass du wirklich kein Interesse hast, vielleicht hast du diesmal das seltene Glück und
hinter deiner Hausnummer in dem kleinen Felddienstbericht der Zeugen Jehovas steht
ein Ni für nicht interessiert. Herzlichen Glückwunsch. Es dauert ein Jahr, bis die
Zeugen Jehovas wieder an deiner Tür klingeln. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wirst du niemals Zeuge
Jehovas sein. Aber wolltest du nicht schon immer wissen, was auf der anderen Seite deiner Tür
passiert, nachdem du sie den Zeugen Jehovas vor der Nase zugeschlagen hast? Bei einer Umfrage gaben
96 Prozent der Menschen an, die Zeugen Jehovas zu kennen. Sie sind wahrscheinlich die bekannteste
Sekte der Welt. Aber sind sie das überhaupt? Eine Sekte? Und was ist von den Zeugen Jehovas zu
halten? Nun, die letzte Frage kann und möchte ich dir nicht beantworten, das musst du schon
selbst herausfinden. Es fängt schon damit an, dass du eine Wahl hast, die hatte ich nicht. Und das,
das ist meine Geschichte. Mit dieser hier etwas gekürzt wiedergegebenen Einleitung beginnt Misha
Anouk seine 2014 unter dem Titel Goodbye Jehova, wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ,
erschienene autobiografisch erzählte Darstellung einer Kindheit und Jugend bei den Zeugen Jehovas.
Misha Anouk bringt bereits zu Beginn seines Buches mehrere Aspekte ins Spiel, die auch in meinem
heutigen Beitrag zu dieser Ringvorlesung leitend sein sollen. Und das wären erstens liegt in der
geschilderten Gesprächskonstellation an der Wohnungstür eine, ich möchte es mal reziproke,
soziale Grenzziehung zugrunde. Einmal das Innend, das Außen, Mitglied der Zeugen Jehovas und jemand,
der potenziell angeworben werden soll. Zweitens wirft Anouk mit seiner Einleitung die Frage auf,
mit welcher Begrifflichkeit religiöse Gruppen, wie eben die Zeugen Jehovas, bezeichnet werden können
oder dürfen. Das ist, ich wende das ein bisschen anders heute, auch die Frage, was eine Sekte
überhaupt ist. Und vielleicht auch, Sie haben es in meinem Vortragstitel gesehen, ich benutze
einen anderen Begriff, da werde ich vielleicht auch noch mal so ein bisschen drauf kommen,
warum diesen Begriff. Drittens scheint es Anouk ein besonderes Anliegen zu sein, die eigene
Geschichte und damit eine Sektenbinnenperspektive dem adressierten Leser zu erzählen, der vermutlich
zu den 96 Prozent der Bevölkerung gehören, die eben kein weiterführendes Wissen von oder gar
Erlebnisse mit den Zeugen Jehovas besitzen. Dieser Gestus des, ich nenne es jetzt mal,
Inside-Out-Erzählens, der bei vielen öffentlich auftretenden Aussteigern sichtbar wird,
korrespondiert mit einer Outside-in-Bewegung in vielen literarischen Darstellungen. Hierbei
werden häufig narrativ-esthetische Verfahren angewandt, die sich potenziell, und das wäre
dann der vielleicht für die Diskussion führende oder zur Diskussion führende Endpunkt meiner
Überlegungen, auch als typische Strategien der Darstellung von Parallel- und Alternativgesellschaften
erweisen könnten. Ich möchte heute Abend in drei Schritten vorgehen. Zunächst möchte ich das
Phänomen und den Begriff der Sekte, sowie vermeintlich neutralere Bezeichnungen wie religiöse
Sondergemeinschaften kurz beleuchten. Im zweiten Schritt stelle ich drei Gegenwartshumane vor,
deren Handlungen in ganz unterschiedlichen Sekten oder Sondergemeinschaften verortet sind,
und darauf aufbauend versuche ich abschließend im dritten Schritt die in den betrachteten
Texten verwendeten literar-esthetischen Mittel der Darstellung kurz zusammenzutragen.
Am Beginn meiner heutigen Überlegungen steht also die Frage, was ist eine Sekte? Salopp formuliert
könnte man sagen, die Sekte, das sind in der Regel die anderen. Die Sekte, das sind die anderen.
Presenters
Dr. Manuel Illi
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
01:29:44 Min
Aufnahmedatum
2016-12-13
Hochgeladen am
2016-12-16 12:45:25
Sprache
de-DE