In einer lauen Nacht im Bagdad des frühen neunten Jahrhunderts hatte der Kalif al-Ma'amun,
der Sohn des berühmten Harun al-Rashid, einen Traum.
Es erschien ihm ein Mann von rötlich-weisser Hautfarbe, mit hoher Stirn, zusammengewachsenen
Brauen, kahlem Kopfe, dunkelblauen Augen und schönen Zügen, der auf einem Kathedal saß.
Al-Ma'amun schilderte den weiteren Fortgang des Traumgesichts in folgender Weise.
Ich hatte den Eindruck, dass ich ehrfurchtvoll vor ihm stand und ich fragte ihn, wer er sei.
Er erwiderte, ich bin Aristoteles. Ich freute mich mit ihm und bat ihn,
eine Frage an ihn richten zu dürfen. Er gab mir der Erlaubnis und ich sagte,
was ist das Gute? Er erwiderte, das, was vor der Vernunft gut ist.
Ich fragte, und was dann? Er erwiderte, das, was dem Religionsgesetz nach gut ist.
Ich fragte, und was dann? Er erwiderte, das, was die Allgemeinheit für gut hält.
Ich fragte, und was dann? Er erwiderte, nichts weiter. Zitat Ende.
Ibn An-Nadim, unsere unschätzbare Quelle, der in einem großen Verzeichnis alle zu jener Zeit
verfügbaren Schriften und bekannten Autoren festgehalten hat und auch den Traum des Kalifen
referiert, erklärt im Weiteren, dass dieser Traum einer der wichtigsten Gründe für die
Übersetzungstätigkeit griechischer Texte ins Arabische gewesen sei. Nun stellt sich dem
unvoreingenommenen Zuhörer natürlich die Frage, verhielt es sich wirklich so, wie Ibn
Nadim und nach ihm noch andere Autoren es darstellten. Geht die jahrhundertelange
Übersetzungstätigkeit ins Arabische, die alle verfügbaren Texte zu den Naturwissenschaften,
zur Mathematik, zur Medizin und natürlich zur Philosophie aus dem griechischen oder
syrischen ins Arabische übertrug, auf die Begebenheiten dieser einen Nacht zurück?
Und wie steht es dann mit dem Verhältnis der Philosophie zur Religion? Wie war es möglich,
dass sich rationale Wissenschaft in der islamischen Welt entwickeln konnte?
Ich möchte Ihnen heute einen Einblick geben in die Vorgänge, aus denen die
mittelalterliche arabische Philosophie hervorging, welche Hürden sie dabei
überwinden musste und wie sie schließlich Verbreitung gefunden hat.
Natürlich fing nicht alles in einer einzigen Nacht an, so reizvoll die Traumlegende auch sein mag.
Schon zwei Generationen vor Al-Ma'mun hat die Übersetzungstätigkeit begonnen. Dank seiner
Förderung erreichte sie jedoch ihren Höhepunkt. Und etwas kam tatsächlich erst
unter Al-Ma'mun zur Glüte und nachmals zu großer Ausstrahlung, die arabisch-islamische Philosophie.
Unter seiner Ägide wurde auch das sogenannte Haus der Wissenschaft,
Bayt al-Hikmah, errichtet oder eingerichtet. Vielleicht kann man dieses am besten mit der
Art eines heutigen Wissenschaftskollegs vergleichen, ein Ort, an dem man Fachkollegen,
in diesem Falle Übersetzer und vor allem eine Bibliothek vorfindet.
Eine Bibliothek sehen Sie hier. Diese ist allerdings die Bibliothek von Basra.
Die Bücher liegen aufgestapelt in den Regalen. Davor sitzt eine Gruppe Gelehrter im Gespräch.
Im Hinblick auf diese Entwicklungen muss man auch die Traumlegende lesen.
Der Kalif fragt nach dem Guten und Aristoteles setzt in seinen Antworten die Vernunft,
die Ratio über das religiöse Gesetz, über die Scharia. Dem Kalifen konnte dieser Traum
nur gerade recht kommen und deswegen kann auch der Verdacht aufkommen, dass der Legendenbildung
in diesem Fall gerne etwas nachgeholfen worden ist. Unterstützt wird dieser Verdacht durch einen
Blick auf die politischen Umstände der damaligen Zeit. Der Kalif Alma Amun war derjenige, der der
Macht der Abbasiden endlich nach heftigen und jahrelangen Bruder- und Bürgerkriegen in Bagdad
ein Zentrum zu schaffen verhalf. Dies versuchte er nicht nur auf der Ebene der Politik, sondern auch
auf kultureller und religiöser Ebene. Alma Amun war es, der einen fundamentalen Glaubenssatz
der rationalistischen Theologen der Muttaselliten zur Staatsdoktrin erhob, nämlich das Dogma der
Erschaffenheit des Korans. Damit zeigte er auch auf theologischer Ebene an, dass der Kalif die
absolute Macht auf sich vereinigt, denn er ist es, der über die richtige Interpretation des Korans
und damit über theologische Dogma da entscheidet. Im Hinblick auf die Philosophie, das Thema unseres
heutigen Abends, sind diese Vorgänge von grundlegender Bedeutung, denn nur in einem Klima,
Presenters
Dr. Cleophea Ferrari
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:50:11 Min
Aufnahmedatum
2011-02-03
Hochgeladen am
2018-05-06 12:19:03
Sprache
de-DE
Im mittelalterlichen Bagdad gab es eine florierende Lehrtradition der aristotelischen Philosophie. Sie hatte ihr Fundament in den Übersetzungen aus dem Griechischen und Syrischen ins Arabische, die seit dem 8. Jh. in großer Zahl entstanden waren. Astronomie, Mathematik, Medizin, Mechanik und andere, mehr dem praktischen Leben nützliche Wissenschaften standen anfänglich im Vordergrund, aber im 9. Jh. entwickelte auch die Philosophie als eigenständige Disziplin ihre Wirkung. Vor allem die aristotelische Logik hatte, vorerst vor allem in ihrer Rolle als propädeutische Disziplin, eine große Bedeutung, die sie noch über Jahrhunderte hinweg sowohl im Osten wie im Westen behalten sollte. Ohne die aristotelische Philosophie sind die Werke von al-Kindī (gest. 870), al-Fārābī (gest. 950), von Avicenna (gest. 1043) und Averroes (gest. 1198) nicht zu denken. Sie haben sie rezipiert, sie haben sie kritisiert und sie sind darüber hinausgewachsen.