2 - Was sind geistliche Spiele?/ClipID:48717 vorhergehender Clip nächster Clip

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Worum geht es in dieser Folge?

Tropus, Teufelsschlund und Massenseelsorge - die geistlichen Spiele sind ein wichtiges Element der Geschichte des Theaters. In dieser Folge definieren wir den Begriff, sprechen über die Entstehung und Entwicklung und hinterfragen auch die Gründe hinter der Aufführung der geistlichen Spiele. Außerdem wollen wir uns mit euch in eine solche Inszenierung hineinversetzen.

Korrekturen:

  • Die Handschrift, auf der die Edition des Innsbrucker Osterspiels beruht, ist aus Papier (nicht aus Pergament). Details zur Handschrift gibt er hier!
  • Und da wir mit diesem Osterspiel schon am Ende des 14. Jh. sind, spricht man hier nicht mehr von Mittelhochdeutsch, sondern von Frühneuhochdeutsch ;-)

Weiterführende Informationen

Die Verse 1–10 aus dem Innsbrucker Osterspiel, die wir vorgelesen haben, findet ihr hier.

Den Spielplan vom zweiten Spieltag des Luzerner Passionsspiels findet ihr hier.


Milena Löhnert u. Elena Anna Stephanie Pichler

Aufnahme Datum 2023-06-29

Bühne aufs Ohr. Eine Reise durch die geistlichen Spiele des Mittelalters

Vornemet alle gliche,
beide arm und riche,
ir jungen mit den alden,
daz vwir got muße walde!
swigt vnd seczt uch neder czu der erden:
wir wullen uch laßen kunt werden, 
wy vnser herre ist enstanden
von dez bittern todes banden
allem menschlichen geschlechte czu troste,
da mit <er> alle erloste

Und damit herzlich willkommen zur zweiten Folge unseres Podcasts von Bühne aufs Ohr. Vielleicht fragt ihr euch jetzt schon, was genau ihr da gerade gehört habt.

Der Ausschnitt aus dem Innsbrucker Osterspiel, den wir gerade gehört haben, zählt zu den ältesten Formen der geistlichen Spiele, den Osterspielen. Anfang des 14. Jahrhunderts ist das Innsbrucker Osterspiel entstanden. Bis auf einige Passagen ist es auf Deutsch bzw. Thüringisch abgefasst worden.

Natürlich wurde damals noch Mittelhochdeutsch gesprochen, sodass es sich für uns oft fremd anhört. In der Passage von gerade eben erzählt z. B. der Zeremonienmeister dem Publikum, was sie im kommenden Spiel erwartet und berichtet im Zuge dessen von Jesus Schicksal.

Es ist faszinierend, wie viel man aus den erhaltenen Pergamentstücken herauslesen kann. Oft umfassten die Aufzeichnungen, z.B. nur die deutschen Verse und es wurden keine Regieangaben oder die gesungenen lateinischen Stücke verzeichnet. Denn damals enthielten die einzelnen Ausgaben nur die für den Besitzer relevanten Informationen.

Aber wir greifen eigentlich schon viel zu weit nach vorne. Heute wollen wir mit euch erst einmal klären, was geistliche Spiele überhaupt sind, wie sie entstanden sind und sich dann entwickelt haben. Dann wollen wir uns mit euch ansehen, wie so eine Aufführung ausgesehen haben könnte und zum Schluss wollen wir klären, warum sie überhaupt aufgeführt wurden.

Dann ganz einfach gefragt: Was sind geistliche Spiele überhaupt?

Na ja, als geistliches Spiel wird eine im europäischen Mittelalter entstandene Theaterform bezeichnet, die dann auf volkstümliche Art religiöse Inhalte darstellte. Daher auch der Zusatz geistliche Spiele. Sie sind aus den Tropen der Osterliturgie entstanden. Tropen sind übrigens lateinische Wechselgesänge in der Liturgie, die von einem geistlichen Zweit- oder Halb-Chor gesungen wurden.

Genau, ja. Als Ausgangspunkt für die geistlichen Spiele gilt der dialogische Ostertropus Quem queritis in sepulchro, der im zehnten Jahrhundert geschaffen wurde. Das erklärt auch, warum das Osterspiel die erste Form von geistlichen Spielen war.

Dieser Ostertropus ist ein von zwei Chören gesungener Redewechsel zwischen den drei Marien und dem Engel am Grabe Christi, der die Auferstehung des Gekreuzigten verkündigt. Dieser Wechsel wurde dann um eine szenische Darstellung des Grabbesuchs erweitert, womit die Vorstufe zum eigentlichen dramatischen Osterspiel geschaffen wurde.

Diese Form wurde aber nicht nur musikalisch erweitert. Es wurden dann auch weitere Szenen und bestimmte Handlungselemente der biblischen Auferstehungsgeschichte hinzugefügt, sodass die Osterspiele bis zu ihrer Blüte im 13. Jahrhundert zu umfangreichen Dramen wuchsen.

Genau, aber springen wir nicht direkt zu weit nach vorne. In der Zeit zwischen der Entwicklung vom Ostertropus und der Hochzeit der Osterspiele entstanden auch noch andere Formen des geistlichen Spiels. Im 11. Jahrhundert, also gut ein Jahrhundert nach dem Ostertropus, entstand zuerst nach dessen Vorbild der Weihnachtstropus und im 13. Jahrhundert dann das Weihnachtsspiel.

Fun Fact, das Krippenspiel, das ihr heute vielleicht vor allem noch im traditionelleren Rahmen kennt, ist quasi ein Überbleibsel des Ganzen.

Der Handlungskern der Weihnachtsspiele war die Verkündigung an die Hirten auf dem Feld. Die Inhalte schwankten aber. Manchmal sind das drei Königs- und Herodes-Spiel miteinander verbunden worden und ab und zu stand sogar der Kindermord in Betlehem im Mittelpunkt.

Parallel zu den Weihnachtsspielen entwickelten sich verschiedene Formen von Prozessionsspielen im Rahmen der christlichen Festtage und auch die Passionsspiele. Damit sind wir eigentlich wieder im 13. Jahrhundert, also der Blüte der Osterspiele angekommen. Im Zuge der geistlichen Reformbewegungen bildeten sich aus diesen eben die Passionsspiele heraus. Die „Passion Christi“ habt ihr vielleicht schon einmal gehört. Mit der Konzentration auf den Leidensweg und das heilbringende Opfer Jesu rücken die Themen von Sünde und Erlösung ins Zentrum der Spiele. 

Das Passionsspiel machte dem Osterspiel aber erst im 15. Jahrhundert Konkurrenz, vielleicht weil die Entstehung direkt in die Hochphase der Osterspiele fiel. Dafür war es in anderen Bereichen ein Vorreiter. So fanden die Passionsspiele eigentlich schon von Anfang an außerhalb der gottesdienstlichen Feier statt.

Grundsätzlich hat sich das geistliche Spiel erst im 14. Jahrhundert verändert, als die Bürgerkultur stärker wurde und darauf Einfluss genommen hat. Dadurch haben sich die geistlichen Spieler in einigen wesentlichen Punkten entwickelt.

Beide entstanden dadurch, dass sie sich aus dem liturgischen Rahmen lösten. Dadurch wurden sie, übrigens auf Befehl der Kirche, nicht nur an kirchlichen Spielstätten, sondern auch oft unter freiem Himmel, auf Marktplätzen oder Kirchenvorplätzen aufgeführt. Das verursacht einen Popularisierungsschub, da durch den neuen Rahmen mehr Menschen zu sehen konnten. Außerdem wurden die Kostümierung und Ausstattung aufwendiger.

Anfangs wurde die Gestaltung und Produktion noch von monastischer und klerikaler Seite übernommen. Später wurde sie dann von der Bürgerschaft und da oft von den Passionsbruderschaften der Städte abgelöst. Die Leitung der Aufführungen lag dann häufig bei Kantoren und Schulmeistern. Aber auch bei den bürgerschaftlich organisierten Aufführungen darf man eine klerikale Beteiligung und Verfasserschaft nicht von vornherein ausschließen. Als Schauspieler nennen Spielerzeugnisse aller Regionen in der Regel junge Männer.

Der andere Punkt ist die Erweiterung des dargestellten Stoffes und der Szenen und dadurch auch der Länge der Spiele. Ohne das feste liturgische Gerüst wurde die Spielhandlung länger und länger, wodurch sich die Aufführungen teilweise über mehrere Tage erstrecken konnten. Das kann man sich heute irgendwie kaum mehr vorstellen.

Vermutlich änderte sich auch dadurch der Charakter der Spiele. Bisher wurden die Spiele ja immer im Rahmen der Gottesdienste aufgeführt, weshalb man sich streng an den Stoffvorlagen aus der Bibel und den heiligen Legenden orientieren musste. Für künstlerische Freiheit blieb da eigentlich nicht wirklich Platz.

Aber in dieser Epoche änderte sich das dann. Die Darstellungen wurden weniger symbolisch und stattdessen realistischer und drastischer. Für die damaligen Verhältnisse oft schon obszön.

Total ja! Diese Entwicklungen zogen sich dann auch weiter bis ins 15. Jahrhundert, ab dem eigentlich schon die Spätphase des geistlichen Spiels eintrat, obwohl die außerkirchlichen Spiele erst in diesem Jahrhundert ihren Höhepunkt erlebten. Viele Spiele waren zu diesem Zeitpunkt auf mehrere tausend Verse angewachsen und die Aufführungen ähnelten schon fast Volksfesten. Die Massenszenen vergrößerten sich ebenfalls deutlich, wodurch die Bevölkerung durch gemeinsames Gebet und Choralgesang wieder quasi-liturgisch einbezogen wurde.

Im 16. Jahrhundert erfuhren sie dann durch die Reformation einen bedeutenden Einschnitt. Die Rollen wurden dramatischer ausgebaut, neue Stoffe wurden aufgenommen und der Personalstand erweitert. Dadurch entwickelten sich viele Möglichkeiten zur Darstellung von weltlichen Szenen, wodurch man sich vom kirchlichen Ritus löste.

Im 17. und 18. Jahrhundert wurde dann das Oratorium und die oratorischen Passionsmusiken populär. Die Theaterzensur im 18. und dann auch im 19. Jahrhundert schränkte religiöse Stoffe auf der Bühne stark ein. Im 19. Jahrhundert wurden dann religiöse Melodramen in manchen Städten als „proletarische“ Theaterform üblich und werden seitdem eigentlich nur mehr vereinzelt aufgeführt.

Jetzt haben wir viel von der Entstehung und der Entwicklung der geistlichen Spiele erzählt, aber wie so eine Aufführung nun wirklich aussieht, haben wir noch nicht geklärt. Das ist auch nicht immer so leicht.

Aus dem Mittelalter gibt es keine Videoaufnahmen und einen Kostümfundus, um solche Infos zu bekommen. Man kann nur versuchen, anhand von den erhaltenen Schriftstücken die einzelnen Spiele zusammenzupuzzeln. Und wie wir schon vorher festgestellt haben, hatte nicht jede Version des Skripts sämtliche Anmerkungen und Anweisungen.

Wenn es überhaupt das gesamte Skript gab.

Ja, das ist das nächste Problem. Aber da man auch verschiedene Spiele bis zu einem gewissen Grad vergleichen kann, lässt sich zumindest ein ungefähres Bild malen. Wir wissen, dass die Aufführungen ein Wechselspiel von gesprochenem, gesungenem und gestisch-mimischem Vortrag war. Oft wurde auch getanzt.

Das Publikum konnte meistens nicht lesen und verstand außerdem oft kein Latein. Natürlich gab es manchmal auch lateinische Einschübe, allerdings sind sie häufig aus dem Kontext heraus zu verstehen und der restliche Teil des geistlichen Spiels wurde oft in Volkssprache aufgeführt.

Und als sich die Spielorte von den Kirchenräumen auf die öffentlichen Plätze verlagerten, konnten auch mehr Leute den Aufführungen beiwohnen. Das war gerade bei umfangreicheren Spielen wie eben den Passionsspielen, die sich über mehrere Tage erstrecken konnten, der Fall. Nach einiger Zeit kamen Prozessionsspiele dazu, bei denen dann die Darstellung von Szenen aus der biblischen Geschichte oder dem Leben der Heiligen auf Umzugswagen durch die Stadt gezogen wurde.

Für die Aufführungen wurden sogenannte Simultanbühnen oder auch Mehrortbühnen benutzt, auf denen mehrere Schauplätze an unterschiedlichen Orten dargestellt werden konnten. Das konnte gleichzeitig, wenn die Bühnen nebeneinander aufgebaut waren oder nacheinander geschehen, wenn Schauspieler und Publikum gemeinsam von einer Bühne zur nächsten wechselten.

Durch eine passende Anordnung der einzelnen Schauplätze lässt sich nicht nur die chronologische Abfolge, sondern auch der theologische Sinn der Handlungen deutlicher machen. So stehen sich dann der Himmel, normalerweise im Osten, in erhöhter Position und die Hölle im Westen gegenüber, während dazwischen die weltlichen Schauplätze nach einem auf Gut und Böse verweisenden Rechts-Links-Schema Aufstellung finden.

Ein gutes Beispiel, um sich solche Spiele etwas genauer anzusehen, sind die Oster- bzw. Passionsspiele von Luzern. Dank Renward Cysat, dem Regenten der Osterspiele von 1583 und 1597, sind viele Materialien zur Aufführungspraxis erhalten geblieben. Wir versetzen uns einmal in die Situation hinein:

Wir befinden uns jetzt gerade im Jahr 1583 auf dem Weinmarkt in Luzern. Die letzte Aufführung liegt schon zwölf Jahre zurück und seit einigen Jahren macht das Jesuitentheater den Osterspielen Konkurrenz. Aber auch diese haben sich verändert und sind zu einem regelrechten Panorama der Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zu den Pfingst-Geschehnissen angewachsen. So wurde am gestrigen ersten Spieltag insgesamt 7 Akte aus dem alten und 21 Akte aus dem neuen Testament aufgeführt. Heute wird nun in nochmal 28 Akten das Leben und Sterben von Jesu Christi dargestellt.

Wir sind inmitten des Publikums, das aus Tausenden von Zuschauerinnen und Zuschauern besteht, die sich auf einer der Zuschauertribünen aufhalten, die auf drei Seiten des Weinmarkts aufgestellt wurden. Die Spielfläche befindet sich am Kopf des Platzes vor dem Haus zur Sonne. Der Balkon des Hauses verkörpert den Himmel. Wenn wir von diesem Haus zur anderen Seite des Platzes schauen, können wir den großen Teufelsschlund erkennen, der dort aufgestellt worden ist, um die Hölle zu verkörpern.

Die Mitte des Platzes wird übrigens jetzt schon als Theatrum bezeichnet und ist von mehreren kleineren und beweglichen Bauten besetzt, die verschiedenen Handlungsplätzen Raum geben. Zusätzlich zu diesem Hauptschauplatz schließen sich an drei der Seiten kleine Höfe an. Die werden eigentlich auch bespielt, aber man sieht dort eher die Schauspieler stehen, die gerade nicht am aktiven Spielgeschehen beteiligt sind.

Was nicht Wenige sind. In diesem Jahr übernehmen rund 200 Schauspieler, die ungefähr 300 Rollen der Spiele. Alle Darsteller sind männlich, interessanterweise können aber schon alle Stände daran teilnehmen. Spielwillige Luzerner konnten sich auch dieses Mal wieder melden und teilweise sogar Rollenwünsche äußern.

Wie das halt nun mal ist, werden auch in diesem Jahr einige der Rollen von den üblichen Patrizier-Familien übernommen. Aber der Rest bleibt offen. Die Kostüme und Requisiten müssen nach der Einweisung allerdings selbst beschaffen werden, also man muss zumindest Ressourcen dafür haben, vor allem wenn man mehrere Rollen übernehmen möchte.

So sparen die Spiele selbst etwas an Geld. Vor zwölf Jahren waren es allein schon über 150 Musiker, die bezahlt werden mussten. Aber dieses Jahr hat Cysat sich darum bemüht, weniger zu engagieren.

Es ist echt interessant, wie groß die Spiele eigentlich schon damals gestaltet wurden. Von den eigentlichen Aufführungen über die Bühne und den Requisiten bis hin zu der Menge an Schauspielern und Zuschauern.

Ja, kein Wunder, dass sie damals so viel Anklang gefunden haben.

Voll absolut! Und nachdem wir uns also gerade in die Atmosphäre hineingefüllt haben, stellen wir uns noch eine abschließende Frage: Warum wurden sie eigentlich aufgeführt?

Als Massenmedium des Mittelalters erhielt das geistliche Spiel nach den Intentionen der Autoren, Redaktoren und Organisatoren die Funktion der religiösen Belehrung und Erbauung. Nicht selten versuchten sie die Zuschauer durch Erregung von Mitleid, Erschütterung und Furcht vor der ewigen Verdammnis, aber auch durch die Erweckung von Heilsgewissheit zur Selbstbesinnung, Bußbereitschaft und Sündenerkenntnis zu treiben.

Dementsprechend sollte gerade noch in der Anfangszeit nicht unbedingt die künstlerische Elaboriertheit im Vordergrund stehen, sondern die Allgemeinverständlichkeit von religiösen Inhalten. Auch die gegensätzlichen Extreme von ernstem Geschehen mit grotesker und auch sexueller Komik können neben vordergründiger Belustigung auch einen gewissen Abschreckungseffekt bewirken.

Gerade die offene Aufführungsform, also die Inszenierung im Freien, ermöglichte es den geistlichen Spielen, ein breiteres Publikum zu erreichen und sie dienten so quasi als städtische Massenseelsorge.

Das stimmt. Und damit sind wir also auch schon am Ende angelangt. Wir hoffen, dass wir euch ein bisschen in das Thema geistliche Spiele einführen konnten …

… und wir wünschen euch ganz viel Spaß mit den nächsten Folgen und vielen Dank fürs Zuhören.

Genau.

Bühne aufs Ohr. Eine Reise durch die geistlichen Spiele des Mittelalters

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Lehrende(r)

Dr. Sandra Hofert

Zugang

Frei

Sprache

Deutsch

Einrichtung

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Produzent

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

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