5 - Vergegenwärtigtes Theater. Performativität und Räumlichkeit im Alsfelder Passionsspiel/ClipID:48719 vorhergehender Clip nächster Clip

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Worum geht es in dieser Folge?

Sich die Räumlichkeit und Performativität eines geistlichen, im 16. Jahrhundert aufgeführten Spiels vorzustellen, dürfte durch die vielen Unterschiede zu heute eher schwerfallen. In diesem Podcast sollen beide Begriffsfelder am Beispiel des Alsfelder Passionsspiels näher gelegt werden. Neben der Expertin für Räumlichkeit soll dabei ein besonderer Gast aus dem Mittelalter helfen: Der Proclamator des Alsfelder Passionsspiels!

Korrekturen:

  • Die Hölle wurde im Westen verortet, der Himmel im Osten. So waren beispielsweise auch mittelalterliche Weltkarten geostet (stadt genordet), mit dem Paradies ganz oben, wie hier, auf der Ebstorfer Weltkarte!
  • Zu den verschiedenen Orten, insbesondere Marktplatz und Stadt, die zu den Aufführungsorten der Spiele wurden, siehe auch unsere zweite Folge.

Weiterführende Informationen

Quelle: Das Alsfelder Passionsspiel, hier V. 1–132.

Zum Weiterlesen:

Barton (2016) sowie ders. u. Rebekka Nöcker: Performativität. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Hg. von Christiane Ackermann u. Michael Egerding. Berlin 2015, S. 407–452.

Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004.

Herrmann, Max: Das theatralische Raumerlebnis (1931). In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Jörg Dünne u. Stephan Günzel. Frankfurt am Main 2006, S. 501–514.


Josefine Engelhard, Emily Goesch, Maja Hotzel u. Melina Schröder

Aufnahme Datum 2023-06-29

Bühne aufs Ohr. Eine Reise durch die geistlichen Spiele des Mittelalters

E: Hallo und willkommen zu „Bühne aufs Ohr“!
In unserem heutigen Podcast sprechen wir über das Alsfelder Passionsspiel, insbesondere über den Anfang. Dazu haben wir hier heute eine Expertin eingeladen, die mit uns über einige Aspekte sprechen wird, ich freue mich, dass Sie hier sind. 
M: Hallo, danke für die Einladung, ich freue mich auch. 
Ebenfalls freue ich mich, einen ganz besonderen Ehrengast begrüßen zu dürfen. Die Fachschaft Geschichte der FAU hat uns nämlich ihre Zeitmaschine zur Verfügung gestellt, die sonst eigentlich dazu verwendet wird, Quellen aus der Vergangenheit zu rekonstruieren. Somit darf ich Ihnen eine Person aus dem 16. Jahrhundert vorstellen: Den Proclamator des Alsfelder Passionsspiels!
P: Guten Tag.

Bevor wir aber zu unseren Gästen kommen, werde ich erst einmal ein paar grundlegende Fakten zum Alsfelder Passionsspiel nennen: Das Alsfelder Passionsspiel wurde, wie der Name schon sagt, in Alsfeld aufgeführt, eine Stadt in Hessen. Die Stadt ist auf jeden Fall einen Ausflug wert, doch hatte sie bereits um 1500 touristisch einiges zu bieten. Als ein Höhepunkt gilt das Alsfelder Passionsspiel, das auch mehrmals aufgeführt wurde. Es kann also als ziemlich beliebt eingestuft werden.
Das wir auch heute noch etwas über die Aufführung von geistlichen Spielen im Mittelalter erfahren dürfen, liegt an der geglückten Überlieferung der Aufführungstexte. Diese sind jedoch in einem etwas, aus heutiger Sicht, altertümlich klingenden Deutsch verfasst worden. Deswegen würde ich direkt bei Ihnen, dem Proclamator anfangen, und hoffe, dass Sie mündlich - und auf neuhochdeutsch - ein wenig Licht ins Dunkel bringen können. Wie lief denn damals so eine Spieleröffnung am ersten Tag ab?

P: Nun, bevor das eigentliche Spiel anfängt, muss das Publikum den Fokus schon ganz auf die folgende Aufführung gerichtet haben. Dabei wird den Zuschauer*innen eine direkte Rolle zugewiesen. Durch den Auftritt des Engelschor wird der Blick der Zuschauer*innen sofort auf die Bühne gelenkt und sie merken, dass das Spiel in kurzer Zeit beginnen wird. Zugleich wird das Publikum dazu veranlasst ihre eigenen Gespräche zu unterbinden und dem Gesang zu lauschen.
E: Aber danach fängt nicht sofort das Spiel selbst an, oder? Denn hier haben Sie als Proclamator ihren Auftritt auf der Bühne.
P: Genau, ich bin quasi für eine Überleitung und Einführung auf das eigentliche Spiel zuständig. So gebe ich auch einen kleinen thematischen Einblick:

V. 91-102
Mer woln hude spielen von der martel Ihesu Christ,
der aller wernt eyn erloszer ist.
Dar vmb solt er alle innigk synn
Vnd eben bedencken die groissze pynn,
die Jhesus al an dem crucz gelidden hot
vmb vnser sunde vnd missetad,
want alle vnser heyl dar an lyt
nu vnd vmmer zu ewiger zyt.

E: Okay, ich fürchte diese Ausdrucksweise war gerade nicht für alle Zuhörer*innen komplett verständlich – Macht gar nichts, ich werde den Inhalt des Alsfelder Passionsspiels einmal kurz darlegen. Also, die Aufführung befasst sich mit dem Leiden Christi, der am Kreuz für die Sünden der Menschen gestorben ist. Der Zweck des Spiels ist damit, Gott durch die Aufführung zu ehren und auch zugleich der Passion Christi zu gedenken. Heben wir das Ganze auf eine höhere Ebene ist vor allem die Performativität entscheidend, die sowohl die Rezipient*innen als auch das Spielende beeinflusst. Oder wie würden Sie es am besten beschreiben?
P: Das kulturwissenschaftliche Konzept der Performativität umfasst die Ausführungs-, Vollzugs- und Aufführungsdimensionen sozialen Handelns und kultureller Praktiken. 
Performance, Performanz, Performativität und das Performative bilden ein Begriffsfeld, das, je
nachdem in welcher wissenschaftlichen Disziplin es verwendet wird, heterogene, teils gegensätzliche Positionen beschreibt, was zu einem sehr uneinheitlichen Begriffsgebrauch führt und eine Definition beinahe unmöglich macht. Die Differenzierung ist immer wichtig, ja. Aber für uns reicht nur eine Begriffsdefinition, wir analysieren schließlich hauptsächlich praktisch und nicht theoretisch. Performanz fokussiert den Aufführungscharakter von Handlungen; performance bezeichnet den Prozess der Verkörperung bzw. die Ausführung und Wahrnehmung körperlicher Handlungen. Performativität ist ein großer Begriff, der die Ausführung oder Konkretisierung des gesprochenen Wortes bezeichnet. Eigentlich ein linguistischer Terminus, aber auch hier wichtig.
E: Inwiefern kann man das denn jetzt auf das Passionsspiel beziehen? Gibt es einen besonderen Fokus der Performativität?
P: Aber ja, uns interessiert dabei besonders die Begriffsbezeichnung der Theaterwissenschaft, innerhalb derer Performativität die bei Aufführungen gleichzeitige Anwesenheit von Darstellern und Zuschauern fokussiert, durch die die Aufführung in gegenseitiger Beeinflussung gleichberechtigt entsteht. Aber am besten kehren wir wieder zurück zum Spiel, oder?
E: Das wollte ich gerade vorschlagen, wenden wir uns mal wieder dem Anfang zu. Vorhin wurde bereits von dem Chor der Engel berichtet, der zum Schweigen aufruft. Ist diese Maßnahme wirklich schon effektiv genug, um eine stille Atmosphäre zu erzielen?
P: Nun um vollkommen sicher zu gehen, wird in der Rede des Proclamators und anschließend in der des regens, des Spielleiters, dieser Aufruf zum Schweigen mehrmals eingebaut. Wir wollen schließlich ein andächtiges und vor allem stilles Publikum, sodass die Darsteller nicht gestört werden. Aber so ein gutes Benehmen soll sich natürlich auch für die Zuschauer*innen lohnen. Ein typischer Satz den ich immer sage ist zum Beispiel dieser:

V. 99-102
Nu stehet stille vnd swiget schone,
das vch got von hymmeln lone.
Want wer hie zu siet mit ynnikeyt,
dem wirt das hymmelrich bereyt.

E: Ich sehe schon, zum einen soll also Ruhe herrschen, damit das Schauspiel ungehindert fortlaufen kann, zum anderen sollen die Zuschauer*innen aber durch das stille und aufmerksame Folgen auch gleich einen eigenen Mehrwert haben und etwas für ihr eigenes Seelenheil tun.
P: Richtig! Schließlich sterben wir alle irgendwann. Und dann wird nach dem christlichem Glauben Gott am Jüngsten Tag über jeden Menschen richten. 
E: Und zusammen mit der vorhin bereits angesprochenen Mahnung ergibt sich also eine klare Regelung bei den geistlichen Spielen:
Die Zuschauer*innen, die aufmerksam sind und dem Spiel andächtig folgen, tun zugleich auch etwas für ihr Seelenheil. Diejenigen, die jedoch die Aufführung auf irgendeine Art stören, werden von der Spielfläche von den Teufel-Darstellern entfernt. Das symbolisiert zugleich auch eine Bestrafung im Jenseits, die noch folgen kann, da man die Aufführung, die ja zu Ehren Gottes abgehalten wird, willentlich gestört hat. Aber auch die Räumlichkeit spielt während des gesamten Stücks eine besondere Rolle, oder? Die Zuschauer*innen befinden sich nicht auf Plätzen in einem Zuschauerrang, wie er in unserem heutigen modernen Verständnis wäre, sondern ebenerdig im Kreis versammelt um den Schauort herum. Nochmal an den Proclamator: Welche Rolle spielt die Räumlichkeit bei Ihren Worten?
P: Für die genauere Definition würde ich gern an die geladenen Expertin weitergeben, doch die besonderen Gegebenheiten forderten auch uns heraus, das beste aus Ort und Lage zu machen. Aufführungen finden an festen Orten statt, wie die Kirche, der Vorplatz der Kirche, oder der Marktplatz. Die Orte als Zentren des sozialen und religiösen Lebens sind somit schon von vorneherein mit kultureller und religiöser Bedeutung beladen. Wurde zum Beispiel in der Kirche, vor allem im Altarbereich aufgeführt, war eine Abgrenzung zu einer regulären Messe oft schwierig.

E: Eine letzte Frage habe ich noch: Wir haben uns jetzt vor allem mit der Funktion des Proclamators in dem Alsfelder Passionsspiel befasst. Aber das ist ja erst der Anfang dieses geistlichen Spieles. Was passiert denn danach?
P: Nun, es geht an einem sehr heißen Ort teuflisch weiter. Wir erfahren viel über die Pläne und Absichten von verschiedenen Teufeln, die alle auch sehr sprechende Namen haben: Kottelrey, Rosenkrancz, Raffenzann, oder Spiegelglantz. Wenn nun also Interesse besteht an diesen Teufeln und ihren dämonischen Plänen, die Menschen zu verführen und zu Sünder zu machen, müsst ihr wohl entweder zurück in die Vergangenheit reisen und euch live eine Aufführung von mir ansehen – oder ihr studiert Germanistik. Da behandelt ihr die geistlichen Spiele nämlich noch intensiver!

E: Dann bedanke ich mich schon einmal und würde mit unserer Expertin für Räumlichkeit weitermachen. Max Herrmann spricht davon, dass Bühnenkunst Raumkunst sei. Was genau ist damit gemeint? 
M: Zunächst vielen Dank für die Einladung und dafür, dass ich hier sein darf. Herrmann meint damit, dass der Kunstraum, wie wir ihm im Theater vorfinden, erst durch eine Verwandlung des tatsächlichen Raumes entsteht. Und auch Fischer-Lichte unterscheidet zwischen dem realen Raum und dem Kunstraum, wobei sie den Kunstraum den performativen Raum und den tatsächlichen den architektonisch-geometrischen Raum nennt.
E: Kann für uns bereits im Voraus einmal eine grobe Definition von Räumlichkeit gegeben werden?
M: Räumlichkeit entsteht im und durch den performativen Raum, der über das Verhältnis von     Darsteller*innen und Zuschauer*innen durch Komponenten wie Licht, Klang, Bewegung, etc. entscheidet. Mittelalterliches Theater hat noch keinen institutionalisierten Theaterraum, wie wir ihn heutzutage kennen, stattdessen gibt es vorgegebene Ordnungsräume wie die Kirche oder den Marktplatz. Insgesamt können zwischen drei verschiedenen Ordnungsräumen unterschieden werden: dem Aufführungsort, dem Bühnenraum und dem performativen Raum. 
E: Zum Aufführungsort hat uns ja der Proclamator bereits etwas gesagt. Aber vielleicht könnten Sie einmal erklären, ob die Aufführungen im Altarbereich der Kirche, die ja, wie gesagt wurde, oft nicht von einer regulären Messe abgegrenzt werden konnten, der Grund waren, weswegen die Spiele aus der Kirche hinaus und in andere städtische Räume getragen wurden?
M: Unter anderem. Aber auch die Erweiterung der Spieltexte, die steigende Anzahl der verwendeten Kostüme und Requisiten, sowie die Tatsache, dass immer mehr männliche Spieler außerhalb der Geistlichkeit an den Stücken mitgewirkt haben, sorgte für die Umwandlung der Stadt zur Bühne. Allerdings wurde die Kirche dadurch nie davon abgelöst.
E: Die Stadt und die Kirche haben also zeitlich parallel als Aufführungsorte gedient? 
M: Genau.
E: Wie kann man sich denn eine Aufführung bezüglich der unterschiedlichen Aufführungsorte vorstellen?
M: Um das beantworten zu können, muss zunächst zwischen dem Prozessionsspiel und der Simultanbühne differenziert werden. Beim Prozessionsspiel ziehen Akteure und Zuschauer*innen im Rahmen einer Prozession, also mit einzelnen Stationen durch die Stadt. Das sorgt dafür, dass die Zuschauer*innen mehr an den Geschehnissen involviert sind. Der Begriff der Simultanbühne soll vom Sukzessionsprinzip des neuzeitlichen Theaters differenzieren. Hier sind alle Akteure von Anfang auf der Bühne zu sehen und warten auf ihren Auftritt in abgegrenzten Wartebereichen. Ihr Ein- und Auszug in diese wird unverkennbar durch eine Art Festzug mit Musik angekündigt. Die Handlungsorte auf der Bühne sind durch bestimmte Zeichen erkennbar und Anordnungen sind von symbolischen Vorstellungen geprägt, die eine Wertorientierung ermöglichen. Auch bei der Simultanbühne lassen sich Prozessionen finden, jedoch in einem kleineren Rahmen, also wurde zum Beispiel näher an die Bühne gekommen oder zu einem anderen Handlungsort gegangen, dann aber wieder an den Ausgangspunkt zurückgekehrt.

E: Und inwiefern lässt sich der Aufführungsort von dem zweiten Begriff, den Sie vorhin genannt haben, dem Bühnenraum, unterscheiden?
M: Der Bühnenraum ist alles das, was auf den uns teilweise überlieferten Bühnenplänen zu sehen ist. Auf diesen ist erkennbar, dass sich die Bühne, welche oftmals eben die ganze Stadt war, den jeweiligen topographischen Begebenheiten angepasst hat. „Heiliges“ ist an einer Kirche oder weiter oben, beispielsweise auf einem Hügel und eher im Osten gelegen, während die Hölle als Äquivalent dementsprechend auf der gegenüberliegenden Seite im Westen und niedriger gelegen ist. Auch die Platzierung der Figuren passt sich den Wertvorstellungen der Charaktere an, je nachdem, ob diese eher gottnah oder gottfern sind.
E: Es kann also gesagt werden, dass die Stadt zu einem Symbolraum wird, wo „Gut“ und „Böse“ bzw. Seligkeit und Verdammnis auf entgegengesetzten Seiten liegen? Was macht das mit den Zuschauer*innen?
M: Die Stadt wird nicht nur zum Symbolraum, sondern auch zum Medium. Den Zuschauer*innen ist es dadurch möglich, die Heilsgeschichte in ihrer Gegenwart zu erfahren, vor allem da die Topographie mit der Ordnung des göttlichen Kosmos verschmilzt. Besonders durch die Simultanbühne kann dieser Effekt eintreffen, da auch hier aus der Zeitlichkeit enthoben wird und zumindest die Theorie vorsieht, dass alles gleichzeitig betrachtet werden kann. Die geistige Wahrheit der eigenen Welt wird symbolisch sichtbar.
E: Die Verbindung zwischen unserer theoretisch erklärten Performativität und der besonderen Räumlichkeit treffen insbesondere im Alsfelder Passionsspiel aufeinander. Wie wird da die Grenze zwischen Performanz und Imagination, besser gesagt zwischen den Zuschauer*innen und dem Bühnenraum gewährleistet?
M: Das ist eine wichtige Betrachtung, die wir auch für spätere Erklärungen differenzieren müssen. Da kein klarer Raum an sich eingeteilt wird, muss die Grenze durch andere Wege gezogen werden. Meistens – und das auch im Alsfelder Passionsspiel wird das ganze performativ, sprachlich und auch gestisch gemacht. Um Klarheit zu schaffen, wird das bereits in den Prologen zu den Spielen erklärt. Die Spielsituation und die Rolle der Zuschauer*innen werden explizit zugewiesen. 
E: Wie genau funktioniert in unserem Fall die Zuweisung? Gibt es konkrete Beispiele?
M: Da gibt es einige Beispiele. Aber ganz markant ist es in der Ansprache des Proclamators und in den ersten Versen des Stücks. Die Engel bitten um Stille – hier Silete – und der Proclamator zieht auch wortwörtlich einen Kreis zwischen Spiel und Zuschauenden (V. 111 ff.). 
E: Wenn wir mal ganz böse fragen, warum sollten sich die Zuschauenden an die Grenzziehung halten, gibt es ein Versprechen oder eine Belohnung?
M: Sowas in die Richtung gibt es sehr wohl. Der Proclamator mahnt und droht gewissermaßen, dass sich alle an die Passion Christi und auch an sein Leiden erinnern müssen, um sich selbst vor dem Tod und den Schmerzen retten zu können. Was aber meiner Meinung nach viel wichtiger ist, ist das Seelenheil, das den Zuschauer*innen versprochen wird. Das non plus ultra ist die Seligkeit, mit der man schlussendlich ins Himmelreich aufsteigt. Auch das Spiel zeigt das auf und erinnert die Menschen an ihre anzustrebende Vollkommenheit. Indem sie aufpassen und andächtig nachfühlen – das Wort andächtig wird später nochmal wichtig – kommen sie den Worten des Proclamators und gleichzeitig ihrem eigenen Wunsch nach Seligkeit nach.

E: Ich würde an der Stelle kurz einhaken und den Proclamator mit dazu ziehen. Haben Sie Ihre Grenze mit diesem Versprechen gezogen oder wie hatten Sie es sich damals vorgestellt und umgesetzt? Könnten Sie uns einen kurzen Einblick geben?
P: Danke, ja mir war wichtig, dass ich direkt zu Beginn eine performative Grenze ziehe. Im übertragenen Sinne war es ein „Wer nicht zum Spiel gehört, darf nicht in den Kreis“, frühneuhochdeutsch hieß es wer da betredden wirt in dissem kreyß | Er sijn Heyncz adder Concz adder wie er heyß | der do nit gehoret in dit spiel | vor war ich vch das sagenn wel, | der muß syn busze groiplich entphan, | mit den tufeln muß er yn die helle gan (V. 111-116). Auch mit meinem symbolischen slagk (V.123) ziehe ich die Grenze gestisch. Mir ist durchaus bewusst, dass man vor allem als Zuschauer*in verwirrt sein kann, welche Grenzen miteinander verschmelzen, wenn ich geredet habe, aber das war auch der Clou dahinter.

M: Ergänzend dazu vielleicht: Die Genialität dahinter ist die Doppeldeutigkeit, in der auch die Rollen interpretiert werden können. Der Teufel innerhalb des Spiels erfüllt beispielsweise seine vorgeschriebene Rolle, ist aber gleichzeitig eine Art ‚Theaterpolizei‘ für diejenigen, die die Aufführung stören. Stört ein Zuschauer wird er vom Teufel an der Hand in den Kreis geführt und in die Hölle gebracht. Zwar ist diese spielimmanent, aber es ist auch so ziemlich unangenehm exponiert vor allen anderen Zuschauer*innen ins Lächerliche gezogen zu werden. Allein vor der Scham und Angst, in die Hölle geführt zu werden, halten sich alle Zuschauenden also an ihre zugewiesene Rolle. Ich stelle mir das wirklich amüsant und lustig vor, wenn der Teufel dich da an der Hand nimmt und dich vor allen blamiert. Also besser still sein, dann droht dir auch keine „echte“ Hölle. 
E: Inwiefern echte Hölle? Wurde man danach brutal aussortiert oder wie kann das sein?
M: Ja das ist komplexer. Beide Orte, Himmel wie Hölle, werden nämlich zweimal vertreten. Die helsche pynn, die angedroht wird, wenn Zuschauende stören, aber auch der markierte spielimmanente Ort der Hölle wird herausgehoben und angedroht. Dieses Wortspiel funktioniert aber wirklich nur dann, wenn die Bedeutungen der Orte getrennt betrachtet werden. 
E: Sie hatten auch den Himmel erwähnt. Wie genau ist der doppeldeutig zu verstehen?
M: Ja stimmt, da ist es etwas schwieriger, weil der Himmel selbst kein spielimmanenter Ort ist, der auf der Bühne dargestellt werden kann. Trotzdem ist auch der Himmel zweimal im Spiel vorhanden. Zum einen vermittelt das Spiel ein Abbild des Himmels, weil dieser erwähnt und symbolisch dargestellt wird. Zum anderen verkörpert das Spiel den Himmel selbst. Denn der Spielort solcher Passionsspiele fand häufig in Kirchen, Klöstern oder auch Kapellen statt. Der Ort, an dem man Gott immerhin am nahsten ist, ein Ort, an dem man zum Beten, Predigen oder friedlichen Beisammensein aufsucht. Wichtig ist, dass man die zwei Raumordnungen, die das Spiel impliziert, gleichzeitig betrachten und trotzdem getrennt anerkennen kann.

E: Können Sie zusammenfassend erklären, wie sich für die Zuschauenden und Laien diese zwei Raumordnungen unterscheiden?
M: Ja gerne. Es gibt die symbolische Raumordnung und der performativ gezogene Raum. Die symbolische entspricht der fest zu lokalisierenden Bühnenordnung. Dieser wird aber mit der performativ gezogenen Grenze erneuert, wenn man es so nennen kann. Durch das Stück und die Zuschauenden wird nämlich ein ganz individueller Raum kreiert, erschaffen oder einfach abgegrenzt. Es ist der Raum, der durch die Interaktion und die „Liveness“ entsteht.
E: Wenn wir jetzt daran denken, dass sämtliche Passionsspiele biblische und jahrhunderte alte Texte mit viel Quellenarbeit und historischem Wandel beinhalten, stellt sich mir dann doch die Frage, wie diese heilsgeschichtlich-zeitliche Grenze überbrückt werden kann. Die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist doch zu groß, um sie zu ignorieren, oder?
M: Ja, das ist einer der entscheidenden Knackpunkte. Zwar ist die Grenze auch wichtig, um die räumlich-imaginäre Grenze, die die Zuschauer*innen selbst ziehen müssen, anzuregen, aber gleichzeitig soll die Grenze so klein wie möglich gemacht werden, das stimmt. Das Passionsspiel ist immer ein Medium des Bedenkens. Wenn nicht sogar DAS Medium des Bedenkens. Deswegen auch die Betonung des Worts „andächtig“, dass die Zuschauer*innen verinnerlichen sollen. Es ist eher die Frage, wie man diese „Räumlichkeit“ auffasst und auswertet. 
E: Wie kann man diese Räumlichkeit denn auffassen?
M: Dazu muss ich etwas ausholen. Die Vergegenwärtigung des Passionsgeschehens ist für Rezipient*innen gleichbedeutend mit der Vergegenwärtigung der Heilswirkung. Es gibt viele verschiedene Frömmigkeitspraxen, die zum Nachahmen und Nachvollziehen anregen. Zum Beispiel der Kreuzzug, Pilgerweg oder die Prozessionsspiele. Aber keines ist mit einem aufgeführten Passionsspiel vergleichbar. Warum, ist die Frage? Weil es immer ein Raumerlebnis bleibt, egal wie viele Grenzen verschwimmen. Diese Präsenzerfahrung, die Bilder, die den Zuschauer*innen aufgezeigt werden, bleiben in Zeit und Raum, damit real greifbar. Denn das was der Zuschauende wahrnehmen soll, wird ihm direkt vor Augen gebracht. Die einzige Hürde ist es, den Raumerfahrungsmoment zuzulassen, besser gesagt sich darauf einzulassen. Es ist eine Sache der Einstellung. Man soll die Heilsgeschichte als gegenwärtig erleben, auch wenn die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart letztlich besteht. 
E: Heißt das im Umkehrschluss, dass das Publikum die Art und Weise, in der geschauspielert wird, einfach ignorieren soll und die Rollen scheinen der Jesusfigur und weiteren einfach zu gleichen?
M: Exakt das ist es. Man spricht dann davon, dass das „theatrale Als-ob“ ignoriert werden muss. Das kann sogar das größte Hindernis sein. Im Gegensatz zum Gegenwartstheater führt der performative Raum des geistlichen Spiels die metaphysische Grundlage des real verstandenen Raums vor Augen.
E: Wird durch die Heilsgeschichte selbst dann ein Stück weit die Zeit überwunden, weil sie immer allgegenwärtig bleibt?
M: So ein bisschen schon ja. Das ist der Teil, den man echt schwer in Worte fassen kann. Diese Vorstellung der Passion Christi ist immer auch eine metaphysische. Denn es wird ein ewiglicher und zeitlich enthobener Augenblick inszeniert. Er ist nirgends konkret lokalisierbar, weil es die gesamt-christlich verstandene Räumlichkeit beinhaltet. Was die wiederum ist, ist nochmal ein anderes Kapitel, aber das spielt für die Erklärung keine weitere Rolle. Der heilige Moment der Erzählung wird von uns also genommen und innerhalb der „vier Wände“ – auch wenn der Begriff viel später aufkommt – des Theaters versinnbildlicht, verkörpert oder wie man es für sich selbst definieren mag. Es ist einfach besonders, diese so allseits bekannte und tief verankerte Geschichte prestigeträchtig und angemessen darzustellen.

E: Man kann insgesamt festhalten, dass Schauspieler*innen die Grenzen performativ ziehen und überschreiten können, die Zuschauer*innen das hingegen imaginativ-affektiv nachvollziehen können, richtig?
M: Ganz genau. Der fundamentale religiöse Raumerfahrungs-Moment wurde vor allem vor über 500 Jahren dadurch gewährleistet, dass der Imaginationsraum mit dem realen Raum verschmilzt und die Zuschauer*innen sich in realen Örtlichkeiten wiederfinden. Nicht ganz wie heute, wo eine hergerichtete Bühne völlig andere Orte repräsentiert und sich das Publikum nicht auf den Raum einlassen kann.
E: Das stimmt allerdings und würde dies als Abschlussworte festhalten.
Wir hoffen, ihr konntet einen kleinen Einblick in die Performativität, Aufführungssituation und die Anfänge eines geistlichen Spieles gewinnen und dass wir euch das Thema etwas näherbringen konnten. Vielen Dank an meine Gäste und an die Zuhörer*innen und bis bald, wenn es wieder heißt „Bühne auf’s Ohr!“ 

Bühne aufs Ohr. Eine Reise durch die geistlichen Spiele des Mittelalters

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Lehrende(r)

Dr. Sandra Hofert

Zugang

Frei

Sprache

Deutsch

Einrichtung

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Produzent

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

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